Die Weltordnung Baha´u´llah T. 2

Wir mögen wohl die folgenden Abschnitte aus einem durch Bahá'u'lláh offenbarten Gebete im Herzen bewegen, die einen eindrucksvollen Beweis und eine weitere Bestätigung für die Echtheit jener großen, wesentlichen Wahrheit darstellen, die im Innersten Seiner Botschaft an die Menschheit liegt: »O Herr, mein Gott! Preis sei Dir für die wunderbaren Offenbarungen Deines unerforschlichen Ratschlusses, für die mannigfachen Leiden und Heimsuchungen, die Du für mich bestimmt hast. Einmal hast Du mich den Händen Nimrods überantwortet, ein andermal hast Du gestattet, daß mich Pharaos Zuchtrute peinigte. Du allein kannst durch Deine allumfassende Erkenntnis und das Wirken Deines Willens die unsagbaren Schmerzen ermessen, die ich unter ihren Händen erduldete. Und wieder warfst Du mich in die Gefängniszelle der Gottlosen aus dem einzigen Grund, weil ich mich getrieben fühlte, den bevorzugten Bewohnern Deines Reiches eine Andeutung von jenem Gesicht ins Ohr zu flüstern, das Du mich durch Deine Erkenntnis schauen ließest und dessen Bedeutung Du mir durch die Kraft Deiner Macht offenbart hast. Und wieder bestimmtest Du, daß ich durch das Schwert der Ungen enthauptet wurde. Dann wieder ward ich gekreuzigt, weil ich den Augen der Menschen die verborgenen Edelsteine Deiner herrlichen Einheit enthüllte und ihnen die wunderbaren Zeichen Deiner unumschränkten und ewigen Macht offenbarte. Wie bitter häuften sich in einem späteren Zeitalter auf der Ebene von Karbilá die Demütigungen auf mich! Wie einsam fühlte ich mich inmitten Deines Volkes! Zu welch einem Zustand der Hilflosigkeit wurde ich in jenem Land herabgewürdigt! Von solchen Schändlichkeiten noch nicht befriedigt, schlugen meine Verfolger mir das Haupt ab und trugen es hoch von Land zu Land, stellten es den gaffenden Blicken der ungläubigen Menge zur Schau und legten es auf den Sitzen der Verderbten und Ungetreuen nieder. In einem späteren Zeitalter wurde ich erhängt; meine Brust wurde zur Zielscheibe für die Pfeile der heimtückischen Grausamkeit meiner Feinde gemacht. Meine Glieder wurden von Kugeln durchlöchert und mein Körper ward auseinandergerissen. Sieh endlich, wie sich an diesem Tage meine verräterischen Feinde gegen mich verbündet haben und unentwegt daraufsinnen, das Gift des Hasses und der Bosheit in die Seelen Deiner Diener zu träufeln. Mit aller Macht schmieden sie Ränke, um ihre Absicht auszuführen ... So bitter auch meine Lage sein mag, o Gott, mein Vielgeliebter, ich zolle Dir Dank, und mein Geist ist für alles dankbar, was mir auf dem Pfade Deines Wohlgefallens begegnet. Ich bin zufrieden mit dem, was Du für mich verordnet hast, und begrüße die Schmerzen und Leiden, die ich erfahren muß - wie betrübend sie auch seien.«

#181
Der Báb

+6:2

Innig geliebte Freunde! Daß der Báb, der Begründer der Bábí-Sendung, voll berechtigt ist, die Stufe einer der sich selbst genügenden Manifestationen Gottes einzunehmen, daß Ihm höchste Macht und Autorität verliehen worden ist und Er alle Rechte und Vorrechte des unabhängigen Propheten ausübt, ist eine weitere grundlegende Wahrheit, die die Botschaft Bahá'u'lláhs eindringlich verkündet, und an der ihre Anhänger unnachgiebig festhalten müssen. Daß Er nicht lediglich als inspirierter Vorläufer der Bahá'í-Offenbarung anzusehen ist, daß in Seiner Person, wie Er selbst im Persischen Bayán bezeugt, die Absicht aller Ihm vorangegangenen Propheten erfüllt wurde, ist eine Wahrheit, die zu beweisen und zu betonen ich mich verpflichtet fühle. Wir würden sicherlich unsere Pflicht gegenüber dem von uns bekannten Glauben versäumen und einen seiner grundlegenden und heiligen Lehrsätze verletzen, wollten wir in unseren Worten oder Taten zögern, die Folgerungen aus diesem Grundsatz des Bahá'í-Glaubens zu erkennen, oder ablehnen, rückhaltlos dessen Unantastbarkeit zu wahren und seine Wahrheit zu bekunden. Tatsächlich ist der Hauptbeweggrund, der mich trieb, die Arbeit der Herausgabe und Übersetzung von Nabils unsterblichem Bericht auf mich zu nehmen, der gewesen, jedem Anhänger des Glaubens im Westen zu ermöglichen, die gewaltigen Folgerungen aus Seiner erhabenen Stufe besser zu verstehen, leichter zu erfassen und Ihn darum noch heißer zu bewundern und zu lieben.

#182

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Anspruch auf die vom Allmächtigen für den Báb bestimmte doppelte Stufe - ein Anspruch, für den Er selber so mutig eingetreten ist, den Bahá'u'lláh wiederholt bekräftigt und zuletzt das Zeugnis von 'Abdu'l-Bahás Willen und Testament bestätigt hat - das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Bahá'í-Sendung darstellt. Er ist ein weiteres Zeichen ihrer Einzigartigkeit, eine gewaltige Erhöhung der Kraft, der geheimnisvollen Macht und Autorität, mit der dieser heilige Zyklus ausgestattet wurde. Tatsächlich besteht die Größe des Báb nicht zuerst darin, daß Er der gottberufene Vorläufer einer so erhabenen Offenbarung ist, sondern vielmehr darin, daß Er mit Kräften ausgerüstet war, wie sie dem Begründer einer eigenen religiösen Sendung innewohnen, und daß Er bis zu einem von keinem der vorangegangenen Sendboten erreichten Grade das Zepter unabhängiger Prophetenschaft geführt hat.

#183

Die kurze Dauer Seiner Sendung, der enge Rahmen, in dem zu wirken Seinen Gesetzen und Verordnungen bestimmt war, bieten keinen Maßstab irgendwelcher Art, um ihren göttlichen Ursprung abzuschätzen und die Stärke ihrer Botschaft zu bewerten. »Daß eine so kurze Zeitspanne«, so erklärt Bahá'u'lláh selber, »diese machtvolle, wunderbare Offenbarung von Meiner Mir vorausgegangenen Manifestation getrennt hat, ist ein Geheimnis, das kein Mensch enträtseln, und ein Mysterium, das kein Geist ergründen kann. Ihre Zeitdauer war vorherbestimmt, und kein Mensch wird je den Grund dafür entdecken, es sei denn, daß er über den Inhalt Meines Verborgenen Buches unterrichtet werde.« »Sehet hin«, erklärt Bahá'u'lláh des weiteren im Kitáb-i-Badí, einem Seiner Werke, das die Schlußfolgerungen des Volkes des Bayán zurückweist, »sehet hin, wie unmittelbar nach Ablauf des neunten Jahres dieser wunderbaren, heiligsten und gnadenreichen Sendung die erforderliche Zahl der reinen, sich völlig hin gebenden und geheiligten Seelen ganz im Verborgenen vollendet wurde.«

Die wundersamen Begebenheiten, die das Kommen des Begründers der Bábi-Sendung ankündigten, die dramatischen Umstände Seines eigenen ereignisreichen Lebens, die übernatürliche Tragödie Seines Märtyrertums, der Zauber des Einflusses, den Er auf die hervorragendsten und mächtigsten Seiner Landsleute übte - alles in jedem Kapitel der ergreifenden Aufzeichnungen Nabils bezeugt dies -, sollte als ausreichender Beweis für die Gültigkeit Seines Anspruchs auf eine so erhabene Stufe unter den Propheten gelten.

Wie anschaulich aber auch immer der Bericht sein mag, den der hervorragende Verfasser der Geschichte Seines Lebens der Nachwelt überliefert hat, muß doch selbst eine so klare Schilderung matt erscheinen gegen die glühende Anerkennung, welche die Feder Bahá'u'lláhs dem Báb gezollt hat. Diese Anerkennung wurde vollauf vom Báb selber durch die klare Verfechtung Seines Anspruchs unterstützt, und die schriftlichen Bezeugungen 'Abdu'l-Bahás haben deren Eigenart nachdrücklich bekräftigt und ihre Bedeutung klargelegt.

#184

Wo sonst als im Kitáb-i-Iqán könnten wir bei Beschäftigung mit der Bábi-Sendung nach jenen Bestätigungen forschen, die unverkennbar die Macht und den Geist bezeugen, welche kein Mensch zu offenbaren vermag, er sei denn selbst eine Manifestation Gottes? »Könnte so etwas zutage treten ohne die Kraft einer göttlichen Offenbarung und ohne das Walten von Gottes unbesiegbarem Willen? Bei der Gerechtigkeit Gottes! Würde jemand eine so große Offenbarung in seinem Herzen hegen, so würde allein der Gedanke daran ihn alsbald vernichten! Würden sich die Herzen aller Menschen in seinem Herzen vereinen, so würde er dennoch zögern, ein so erhabenes Unterfangen zu wagen.« »Kein Auge«, bestätigt Er an anderer Stelle, »hat jemals eine so große Ausgießung von Mildtätigkeit geschaut und nie ein Ohr eine solche Offenbarung der Güte vernommen ... Die Propheten, die 'mit Beständigkeit begabt' sind, deren Erhabenheit und Herrlichkeit klar wie die Sonne leuchten, wurden alle mit einem Buch ausgezeichnet, das alle gesehen haben und dessen Verse regelrecht festgesetzt sind. Die Verse aber, die aus dieser Wolke göttlicher Gnade geströmt sind, waren so überreichlich, daß noch niemand imstande war, ihre Zahl zu schätzen ... Wie könnte man diese Offenbarung schmälern? Ist je ein Zeitalter Zeuge derart bedeutsamer Ereignisse gewesen?«

Über den Charakter und den Einfluß jener Helden und Märtyrer, die der Geist des Báb so magisch verwandelt hat, offenbart Bahá'u'lláh die folgenden Worte: »Wenn diese Gefährten nicht die wahren Sucher nach Gott waren, wer sonst könnte mit diesem Namen benannt werden? ... Wenn diese Gefährten in all ihrer wundervollen Zeugenschaft, mit all ihren wunderbaren Werken falsch wären, wer wäre es dann wohl wert, die Wahrheit für sich zu beanspruchen? Hat die Welt seit Adams Tagen je solchen Aufruhr, solch heftige Erregung gesehen? ... Mich dünkt, Geduld ward nur durch ihre Seelenstärke offenbart und Glaubenstreue nur durch ihre Taten bezeugt.«

#185

In dem Wunsche, die Erhabenheit der hohen Stufe des Báb im Vergleich zu jener der früheren Propheten zu betonen, erklärt Bahá'u'lláh in dieser selben Epistel: »Kein Verstand kann die Natur Seiner Offenbarung begreifen, noch kann irgendeine Erkenntnis das volle Maß Seines Glaubens fassen.« Dann führt Er zur Bekräftigung Seiner These diese prophetischen Worte an: »'Wissen ist siebenundzwanzig Buchstaben. Alle Propheten haben zwei Buchstaben davon offenbart. Kein Mensch hat bis heute mehr als diese zwei Buchstaben gekannt. Wenn aber der Qá'im sich erheben wird, dann wird Er die übrigen fünfundzwanzig Buchstaben offenbar machen.' Bedenke«, fügt Er hinzu, »wie groß und erhaben Seine Stufe ist. Sein Rang übertrifft den aller Propheten, und Seine Offenbarung geht über das Erkennen und Begreifen aller ihrer Auserwählten. Von Seiner Offenbarung«, so ergänzt Er weiter, »sind die Propheten Gottes, Seine Heiligen und Auserwählten entweder nicht unterrichtet worden, oder sie haben dies nach Gottes unerforschlichem Ratschluß nicht enthüllt.«

Von allen Huldigungen, die Bahá'u'lláhs unfehlbare Feder dem Báb, Seinem »Meistgeliebten«, zum Gedächtnis entgegenzubringen beliebte, ist die denkwürdigste und erschütterndste dieser kurze, doch beredte Abschnitt, der die letzten Absätze jener selben Epistel so außerordentlich bereichert: »Mitten in all dem«, schreibt Er mit Bezug auf die schmerzlichen Prüfungen und Gefahren, die ihn in der Stadt Bahgád bedrängten, »stehen Wir, dem Leben entsagend und Seinem Willen völlig ergeben. Möge durch Gottes Güte dieser offenbarte und kundgemachte Buchstabe (Bahá'u'lláh) Sein Leben als Opfer auf dem Pfade des Ersten Punktes, des erhabensten Wortes (des Báb), darbringen. Bei Ihm, auf dessen Geheiß der Geist gesprochen hat - wäre es nicht aus dieser Sehnsucht Unserer Seele, wir hätten keinen Augenblick länger in dieser Stadt verweilt.«

#186

Geliebte Freunde! Ein so weithallendes Lob, eine so unanfechtbare Bekräftigung aus der Feder Bahá'u'lláhs in einem so gewichtigen Werke findet ein volles Echo in der Sprache, die der Urquell der Bábí-Offenbarung zum Ausdruck der von Ihm erhobenen Ansprüche gewählt hat. »Ich bin der mystische Tempel«, so gibt der Báb Seine Stufe im Qayyúmu'l Asmá' bekannt», den die Hand der Allmacht baute. Ich bin die Lampe, die Gottes Finger in ihrer Nische entzündet hat und mit unsterblichem Glanze leuchten ließ. Ich bin die Flamme jenes himmlischen Lichtes, das über dem Sinai an der Stätte der Freude aufgeleuchtet und im Brennenden Busch verborgen war.« »O Qurratu'l-'Ayn!«, so ruft Er in jener gleichen Auslegung sich selbst zu, »Ich erkenne in Dir keinen anderen als 'die Große Verkündigung' - die Verkündigung, welche die himmlischen Heerscharen verkünden. Ich bezeuge, daß Dich an diesem Namen jene, die den Thron des erhabenen Glanzes umkreisen, seit je erkannten.« »Mit jedem der Propheten, die Wir in vergangenen Zeiten herniedersandten«, sagt Er weiter, »haben Wir einen besonderen Bund geschlossen bezüglich der 'Erwähnung Gottes' und Seines Tages. Im Reiche des Glanzes und durch die Macht der Wahrheit kundgetan, steht die 'Erwähnung Gottes' und Sein Tag im Angesicht der Engel, die seinen Gnadenstuhl umgeben.« »Wenn Wir es wünschten«, versichert Er noch einmal, »so wäre Uns gegeben, durch die Wirkung auch nur eines Buchstabens Unserer Offenbarung die Welt und alles, was darinnen ist, zu zwingen, in weniger als einem Augenblick die Wahrheit Unserer Sache anzuerkennen.«

#187

»Ich bin der Erste Punkt«, so wendet sich der Báb von der Festung Máh-Kú aus an Muhammad Sháh, »daraus alles Erschaffene gezeugt ward ... Ich bin das Antlitz Gottes, dessen Glanz sich nie verdunkeln läßt, das Leuchten von Gottes Licht, das nie verblassen kann ... Gott hat beliebt, Mir alle Schlüssel des Himmels in die rechte Hand zu legen und alle Schlüssel der Hölle in Meine Linke ... Ich bin ein Tragpfeiler des Ersten Wortes Gottes. Wer immer Mich anerkennt, hat alles erkannt, was wahr und recht ist, und hat alles erreicht, was gut und ziemlich ist ... Der Stoff daraus Gott Mich geschaffen hat, ist nicht der Staub, daraus andere wurden. Er gab Mir, was die Weltweisen nie erfassen noch die Getreuen je enthüllen können.« »Sollte«, so bekräftigt der Báb in dem Wunsche, die in Seiner Sendung verborgenen grenzenlosen Fähigkeiten zu betonen, »eine winzige Ameise an diesem Tag begehren, mit der Macht begabt zu sein, die schwierigsten und verwirrendsten Stellen des Qur'án zu enträtseln, so würde zweifellos ihr Wunsch erfüllt werden, da ja das Mysterium ewiger Macht im innersten Wesen aller erschaffenen Dinge schwingt.« »Wenn ein so hilfloses Geschöpf«, so lautet 'Abdu'l-Bahás Erklärung zu dieser überraschenden Versicherung, »mit einer so hohen Möglichkeit begabt werden kann, um wieviel wirksamer muß dann die Kraft sein, die durch die freigebigen Ausgießungen der Gnade Bahá'u'lláhs frei ward!«

Diesen gebieterischen Aussagen und feierlichen Erklärungen Bahá'u'lláhs und des Báb muß 'Abdu'l-Bahás eigenes unabänderliches Zeugnis beigefügt werden. Er, der berufene Erklärer der Worte Bahá'u'lláhs und des Báb, bekräftigt, nicht etwa nur mittelbar, sondern in klarer und entschiedener Sprache sowohl in seinen Schriften als auch in Seinem Testament die Wahrheit der Darlegungen, auf die ich mich bereits bezogen habe.

#188

In einem Tablet an einen Bahá'í in Mázindarán, in dem Er den Sinn einer Ihm zugeschriebenen, falsch gedeuteten Erklärung über den Aufgang der Sonne der Wahrheit in diesem Jahrhundert klarlegt, entwickelt Er kurz und bündig, was für alle Zeiten unser wahrer Begriff für die Beziehungen zwischen den beiden mit der Bahá'í-Sendung verbundenen Manifestationen bleiben sollte. »Mit einer solchen Darlegung«, so erklärt Er, »hatte Ich niemand anderen als den Báb und Bahá'u'lláh gemeint. Meine Absicht war, die Wesensart ihrer Offenbarungen zu erläutern. Die Offenbarung des Báb mag mit der Sonne verglichen werden, deren Stand dem ersten Tierkreiszeichen entspricht, dem Zeichen des Widders, in welches die Sonne mit der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings eintritt. Die Stufe der Offenbarung Bahá'u'lláhs dagegen wird durch das Zeichen des Löwen dargestellt, wenn die Sonne die Sommermitte und ihren höchsten Stand erreicht hat. Das bedeutet, daß diese heilige Offenbarung erleuchtet ist vom Lichte der Sonne der Wahrheit, die von ihrem erhabensten Punkte aus in der Fülle ihres Glanzes, ihrer Wärme und ihrer Herrlichkeit herabscheint.«

»Der Báb, der Erhabene«, bestätigt 'Abdu'l-Bahá ausführlicher in einem anderen Seiner Tablets, »ist der Morgen der Wahrheit, dessen Strahlenglanz durch alle Himmel leuchtet. Er ist ebenso der Vorbote des Größten Lichtes, des Tagesgestirns Abhá. Die Gesegnete Schönheit ist der Verheißene der heiligen Bücher der Vergangenheit, die Offenbarung des Lichtquells, der auf dem Berge Sinai schien, dessen Feuer im Brennenden Busche glühte. Wir sind, einer wie alle, Diener an ihrer Schwelle und stehen jeder als geringer Wächter an ihrer Türe.« »Jedweder Beweis und jede Prophezeiung«, so lautet Seine noch nachdrücklichere Ermahnung»,jede Art von Zeugnis, das sich auf die Vernunft oder die Texte der heiligen Schriften und Überlieferungen stützt, ist als in den Personen Bahá'u'lláhs und des Báb verankert anzusehen. In ihnen erfahren sie ihre vollkommene Erfüllung.«

#189

Und schließlich setzt Er in Seinem Willen und Testament, das Seine letzten Wünsche und Abschiedslehren verwahrt, in folgendem, eigens die Leitgrundsätze des Bahá'í-Glaubens darzutun bestimmten Absatz das Siegel Seines Zeugnisses auf die zweifache und erhabene Stufe des Báb: »Die Glaubensgrundlage des Volkes Bahás - möge mein Leben ihm zum Opfer dienen - ist diese: Seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb) ist die Manifestation der Einheit und Einzigkeit Gottes und der Vorläufer der Urewigen Schönheit (Bahá'u'lláh). Seine Heiligkeit die Schönheit Abhá (Bahá'u'lláh) - möge mein Leben als Opfer für Seine standhaften Freunde dargeboten sein - ist Gottes erhabenste Manifestation und der Tagesanbruch Seines göttlichsten Wesens.« »Alle anderen«, setzt Er bedeutungsvoll hinzu, »sind Seine Diener und folgen Seinem Gebot.«

#190
Abdu'l-Bahá

+6:3

Innig geliebte Freunde! Ich habe auf den vorangegangenen Seiten versucht, eine Darlegung jener Wahrheiten zu geben, die, wie ich fest glaube, im Anspruch Dessen verankert liegen, der der Urquell der Bahá'í-Offenbarung ist. Ich habe mich ferner bemüht, Mißverständnisse aufzuklären, die naturgemäß in der Meinung eines jeden auftauchen mögen, der über eine so übermenschliche Offenbarung der Herrlichkeit Gottes nachdenkt. Es war mein Bestreben, die Bedeutung der Göttlichkeit zu erklären, mit welcher der Träger einer so geheimnisvollen Kraft notwendigerweise ausgestattet sein muß. Daß die Botschaft, mit deren Übermittlung an die Menschheit ein so erhabenes Wesen in diesem Zeitalter von Gott beauftragt wurde, den göttlichen Ursprung und die Grundprinzipien einer jeden durch die Propheten der Vergangenheit eingeleiteten Sendung anerkennt und aufrechterhält, daß sie mit jeder einzelnen von ihnen aufs innigste verbunden ist, das habe ich ebenfalls nach besten Kräften zu erklären versucht. Daß der Urheber eines solchen Glaubens den Anspruch auf Endgültigkeit, wie ihn Führer der verschiedensten Bekenntnisse erheben, ablehnt und trotz der ungeheuren Größe Seiner Offenbarung für Sich selbst verwirft, auch dies habe ich zu beweisen und zu betonen für notwendig erachtet. Zu erläutern, daß der Báb, der Dauer Seiner Sendung ungeachtet, nicht zuerst als der erkorene Vorläufer des Bahá'í-Glaubens, sondern als Einer angesehen werden sollte, dem jene ungeteilte Autorität verliehen ist, wie sie sämtliche unabhängigen Propheten der Vergangenheit beansprucht haben, dünkte mich ein weiteres Grundprinzip, das zu erläutern im augenblicklichen Zustand der Entwicklung unserer Sache außerordentlich wünschenswert erscheint.

#191

Wir sollten nun, wie ich deutlich fühle, den Versuch machen, unsere Auffassung der von 'Abdu'l-Bahá eingenommenen Stufe und der Bedeutung Seiner Stellung in dieser heiligen Sendung klarzustellen. Es ist in der Tat für uns, die wir zeitlich einer so ungeheuer großen Gestalt so nahe stehen und von der geheimnisvollen Kraft einer so anziehenden Persönlichkeit gefesselt werden, schwer, einen klaren, genauen Begriff von der Rolle und dem Charakter Dessen zu erhalten, der nicht nur in der Sendung Bahá'u'lláhs, sondern auch auf dem gesamten Gebiet der Religionsgeschichte ein einzig dastehendes Amt hat. Obgleich Er sich in Seiner eigenen Sphäre bewegt und eine Stufe einnimmt, die völlig verschieden von denjenigen des Urhebers und des Vorläufers der Bahá'í-Offenbarung ist, bildet Er doch kraft der Stellung, die ihm durch das Bündnis Bahá'u'lláhs zuteil ward, mit jenen zusammen das, was wir als die drei Zentralgestalten eines Glaubens bezeichnen können, der in der Geistesgeschichte der Welt einzig ist. Vereint mit ihnen thront Er über den Geschicken dieses jungen Gottesglaubens in einer Höhe, die kein einzelner und keine nach Ihm seinem Wohl verpflichtete Körperschaft jemals während einer Zeitdauer von mindestens einem vollen Jahrtausend zu erreichen hoffen können. Seinen erhabenen Rang dadurch zu verkleinern, daß man Seine Stufe gleich oder doch nahezu gleich der Stellung derer achtet, auf die der Mantel Seiner Autorität gefallen ist, wäre ein Akt mangelnder Ehrfurcht und ebenso schwerwiegend wie der nicht weniger ketzerische Glaube, der Ihn auf die Stufe absoluter Gleichheit entweder mit der Hauptgestalt oder dem Vorläufer unseres Glaubens stellen möchte. So groß auch der Abstand ist, der 'Abdu'l-Bahá von Dem trennt, der die Quelle einer unabhängigen Offenbarung bildet, so ist er doch niemals mit dem noch größeren Abstand zu vergleichen, der zwischen Ihm, dem Mittelpunkt des Bundes, und Seinen zur Weiterführung Seines Werkes berufenen Dienern liegt, wie immer sie auch hießen und welcher Art ihr Rang, ihr Aufgabenbereich oder ihre künftigen Taten seien. Mögen jene, die 'Abdu'l-Bahá gekannt haben und durch die Berührung mit Seiner anziehenden Persönlichkeit dazu gekommen sind, glühende Bewunderung für Ihn zu hegen, im Lichte dieser Darlegung über die Größe Dessen nachdenken, dessen Stufe so hoch über der Seinen ist.

#192

Daß 'Abdu'l-Bahá keine Manifestation Gottes ist, daß Er, obgleich der Nachfolger Seines Vaters, dennoch nicht die gleiche Stufe einnimmt, daß niemand außer dem Báb und Bahá'u'lláh vor Ablauf eines vollen Jahrtausends Anspruch auf eine solche Stufe erheben kann, ist eine Wahrheit, die den diesbezüglichen Aussprüchen beider, sowohl des Begründers unseres Glaubens als auch des Erläuterers Seiner Lehren, zugrunde liegt.

»Wer vor dem Ablauf eines vollen Jahrtausends Anspruch auf eine unmittelbare Offenbarung Gottes erhebt«, so lautet die im Kitáb-i-Aqdas geäußerte ausdrückliche Warnung, »der ist fürwahr ein lügnerischer Betrüger. Wir bitten Gott, daß Er ihm gnädig beistehe, damit er einen solchen Anspruch widerrufe und verwerfe. Sofern er bereut, wird Gott ihm ohne Zweifel vergeben. Wenn er jedoch in seinem Irrtum beharrt, wird Gott gewißlich jemanden herabsenden, der unbarmherzig mit ihm verfährt, denn furchtbar, in der Tat, ist Gott in Seiner Strafe!« »Wer immer diesen Vers«, so fügt Er um des stärkeren Nachdrucks willen hinzu, »anders auslegt, als sein klarer Sinn ist, der beraubt sich des Geistes Gottes und Seiner alles Erschaffene umfassenden Gnade.« »Sollte ein Mensch«, so lautet eine andere entscheidende Erklärung, »bevor noch volle tausend Jahre vorbei sind, auftreten - jedes der Jahre zu zwölf Monaten nach dem Qur'án und zu neunzehn Monaten zu neunzehn Tagen nach dem Bayán gerechnet - und sollte gleich ein solcher Mensch vor euren Augen alle Zeichen Gottes offenbaren, so sollt ihr ihn doch ohne Zögern von euch weisen.«

#193

Die Erklärungen, die 'Abdu'l-Bahá selber in Übereinstimmung mit dieser Warnung abgibt, sind nicht weniger nachdrücklich und verpflichtend: »Dies ist«, so sagt Er, »meine feste, unerschütterliche Überzeugung, das Wesen meines rückhaltlosen, ausdrücklichen Glaubens, eine Überzeugung und ein Glaube, den die Bewohner des Abhá-Königreichs vollkommen teilen: Die Gesegnete Schönheit (Bahá'u'lláh) ist die Sonne der Wahrheit, und Ihr Licht ist das Licht der Wahrheit. Der Báb ist gleicherweise die Sonne der Wahrheit, und sein Licht ist das Licht der Wahrheit ... Meine Stufe ist die Stufe des Dienstes, eines Dienstes, der vollständig, rein und wirklich, sicher begründet, andauernd, deutlich, ausdrücklich offenbart und keiner irgendwie gearteten Deutung unterworfen ist ... Ich bin der Ausleger des Wortes Gottes; dies ist meine Auslegung.«

Entreißt nicht 'Abdu'l-Bahá in Seinem eigenen Willen - mit einem Ton und einer Sprache, die auch die hartnäckigsten Verletzer des Bündnisses Seines Vaters wohl verwirren können - denjenigen Personen ihre stärkste Waffe, die so lange und mit solcher Beharrlichkeit getrachtet hatten, Ihn durch die Behauptung zu belasten, daß Er stillschweigend Anspruch auf eine ebenso hohe, wenn nicht höhere Stufe als diejenige Bahá'u'lláhs erhöbe? »Die Glaubensgrundlage des Volkes Bahás«, so lautet einer der gewichtigsten Abschnitte jener letzten Urkunde, die hinterlassen wurde, um für alle Zeiten die Weisungen und Wünsche eines dahingegangenen Meisters zu verkünden: »ist diese: Seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb) ist die Manifestation der Einheit und Einzigkeit Gottes und der Vorläufer der Urewigen Schönheit. Seine Heiligkeit die Schönheit Abhá (Bahá'u'lláh) - möge mein Leben ein Opfer für seine standhaften Freunde sein - ist die erhabenste Manifestation Gottes und der Tagesanbruch seines göttlichsten Wesens. Alle anderen sind seine Diener und folgen Seinem Gebot.«

#194

Aus solchen klaren, in aller Form niedergelegten Erklärungen, die mit irgendwelchen Behauptungen eines Anspruchs auf Prophetenschaft unvereinbar sind, sollte indessen keineswegs gefolgert werden, daß 'Abdu'l-Bahá nur einer der Diener der Gesegneten Schönheit oder im besten Falle jemand ist, dessen Aufgabe sich auf die Tätigkeit eines bevollmächtigten Auslegers der Lehren Seines Vaters beschränkt. Es sei mir ferne, derartige Ansichten zu hegen oder anderen solche Empfindungen einflößen zu wollen. Ihn in einem solchen Lichte zu betrachten, ist offenkundiger Verrat an dem unschätzbaren Erbe, das Bahá'u'lláh der Menschheit hinterlassen hat. Unermeßlich erhaben ist die Ihm durch die Erhabene Feder verliehene Stufe über die aus diesen Seinen eigenen schriftlichen Erklärungen sich ergebenden Folgerungen. Sei es im Kitáb-i-Aqdas, dem bedeutungsvollsten und heiligsten aller Werke Bahá'u'lláhs, im Kitáb-i-'Ahd, dem Buche Seines Bündnisses, oder in der Súriy-i-Ghusn (Tablet vom Zweig), überall statten diese durch die Feder Bahá'u'lláhs niedergeschriebenen Hinweise - Hinweise, welche durch die von Seinem Vater an Ihn gerichteten Tablets noch gewaltig unterstrichen werden - 'Abdu'l-Bahá mit einer Macht aus und umgeben sie Ihn mit einem Glanze, wie sie das heutige Geschlecht nie hinreichend wird würdigen können.

#195

Er ist zuerst und vor allem der Mittelpunkt und die Achse des unvergleichlichen und allumfassenden Bündnisses Bahá'u'lláhs und sollte für immer so betrachtet werden, als Seine erhabenste Schöpfung, der fleckenlose Spiegel Seines Lichtes, das vollkommene Beispiel Seiner Lehren, der niemals irrende Ausleger Seines Wortes, der Ausdruck eines jeglichen Bahá'í-Ideals, die Verkörperung jeder Bahá'í-Tugend, der Mächtigste Zweig, der aus der Urewigen Wurzel hervorging, der Arm des göttlichen Gesetzes, das Wesen, »um das sich alle Namen bewegen«, die Triebkraft der Vereinigung der Menschheit, das Banner des Größten Friedens, der Mond des Zentralgestirns dieser heiligsten Sendung. Dies alles sind Benennungen und Ehrennamen, die sich aus Seiner Stufe ergeben und ihren getreuesten, höchsten, edelsten Ausdruck in dem Zaubernamen 'Abdu'l-Bahá finden. Er ist, jenseits von allen diesen Benennungen, »das Geheimnis Gottes« - ein Ausdruck, den Bahá'u'lláh selber gewählt hat, um ihn zu bezeichnen, und der, ohne uns irgendwie zur Zuerkennung der Stufe der Prophetenschaft zu berechtigen, andeutet, wie in der Gestalt 'Abdu'l-Bahás die auseinanderlaufenden Kennzeichen menschlicher Natur und übermenschlicher Erkenntnis und Vollkommenheit verschmolzen und in völlige Übereinstimmung gebracht sind.

»Wenn das Meer Meiner Gegenwart verebbt und das Buch Meiner Offenbarung abgeschlossen ist«, verkündet das Kitáb-i-Aqdas, »wendet euer Angesicht zu Ihm, den Gott bestimmt hat, der aus dieser Urewigen Wurzel entsprungen ist.« Und weiter: »Wenn sich die Mystische Taube aus ihrem Tempel des Lobpreises emporgeschwungen und ihr fernes Ziel, ihre verborgene Behausung, erreicht hat, wendet euch in allem, was ihr im Buche nicht versteht, an Ihn, der aus diesem mächtigen Stamm hervorging.«

#196

Auch im Kitáb-i-'Ahd erklärt Bahá'u'lláh feierlich und ausdrücklich: »Es ist den Aghsán, den Afnán und Meiner Verwandtschaft zur Pflicht gemacht, daß sie allesamt ihr Antlitz dem Mächtigsten Zweige zuwenden. Beachtet, was Wir in Unserem Heiligsten Buche offenbart haben: 'Wenn das Meer Meiner Gegenwart verebbt und das Buch Meiner Offenbarung abgeschlossen ist, so wendet euer Angesicht zu Ihm, den Gott bestimmt hat, der aus dieser Urewigen Wurzel kam.' Der Gegenstand dieses heiligen Verses ist kein anderer als der Mächtigste Zweig ('Abdu'l-Bahá). So haben Wir euch gnädig Unseren machtvollen Willen offenbart, und wahrlich, Ich bin der Gnadenvolle, der Allmächtige.«

In der Súriy-i-Ghusn (Tablet vom Zweig) sind folgende Verse aufgezeichnet:» Vom Sadratu'l-Muntahá ist dieses heilige und erhabene Wesen, dieser Zweig der Heiligkeit, entsprossen. Wohl dem, der bei Ihm Zuflucht sucht und unter Seinem .Schatten weilt. Wahrlich, der Ast des Gesetzes Gottes ist von dieser Wurzel ausgegangen, die Gott fest in den Boden Seines Willens pflanzte und deren Zweig in einem Maß erhoben wurde, daß er die ganze Schöpfung überschattet. Gepriesen sei Er für dieses erhabene, dieses segensreiche, mächtige und herrliche Werk! ... Ein Wort ist aus dem Größten Tablet als Zeichen Unserer Gnade hervorgegangen, ein Wort, das Gott mit dem Schmucke Seines eigenen Wesens zierte und zum Herren über die Erde und alles, was auf ihr ist, und zu einem Zeichen Seiner Größe und Macht unter ihren Bewohnern setzte ... Danke Gott, o Volk, daß Er erschienen ist, denn wahrlich, Er ist für euch die größte Gnade, die vollkommenste Güte, und durch Ihn wird jedes modernde Gebein lebendig. Wer Ihm sich zuwendet, hat sich Gott zugewandt, und wer sich von Ihm abkehrt, hat sich von Meiner Schönheit abgekehrt, hat Meinen Beweis verworfen und sich gegen Mich vergangen. Er ist der Vertraute Gottes unter euch, Sein Pfand in euch, Seine Offenbarung für euch und Seine Erscheinung unter Seinen begünstigten Dienern. . . Wir haben Ihn herabgesandt in der Gestalt eines menschlichen Tempels. Gesegnet und geheiligt sei Gott, der durch Seinen unumstößlichen, unfehlbaren Ratschluß werden läßt, was immer Er wünscht. Wer nicht im Schatten des Zweiges bleibt, der ist verloren in der Wüste des Irrtums. Die Glut der weltlichen Wünsche zehrt ihn auf, und er gehört zu denen, die sicherlich untergehen.«

#197

»O Du, der Du Mein Augapfel bist!«, schreibt Bahá'u'lláh mit eigener Hand an 'Abdu'l-Bahá, »Meine Herrlichkeit, das Weltmeer Meiner Güte, die Sonne Meiner Freigebigkeit, der Himmel Meiner Barmherzigkeit seien mit Dir! Wir bitten Gott, Er möge die Welt erleuchten mit Deinem Wissen und Deiner Weisheit und für Dich verordnen, was Dein Herz erfreue und Dein Auge tröste.« »Gottes Herrlichkeit sei auf Dir«, schreibt Er in einem anderen Tablet, »sowie auf allen, die Dir dienen und um Dich sind. Weh, großes Weh begegne dem, der sich Dir widersetzt und Dich beleidigt. Wohl dem, der Dir die Treue zuschwört! Das Feuer der Hölle aber möge jene peinigen, die Dir feind sind.« »Wir machten Dich zu einer Zuflucht für die ganze Menschheit«, bezeugt Er in einem weiteren Tablet, »zu einem Schild für alle, die im Himmel und auf Erden sind, zu einer Feste für alle, die an Gott, den Unvergleichlichen, den Allwissenden, glauben. Gott gebe Dir, daß Er durch Dich sie schütze, sie reich mache und erhalte und daß Er Dich mit dem erfülle, was zu einer Quelle für den Wohlstand aller erschaffenen Dinge, zu einem Meer der Freigebigkeit für alle Menschen und zum Tagesanbruch des Erbarmens über alle Völker werde.«

#198

»Du weißt, o Mein Gott«, fleht Bahá'u'lláh in einem zu Ehren 'Abdu'l-Bahás offenbarten Gebete, »daß Ich für Ihn nichts anderes wünsche, als was Du selber wünschest, und Ihn zu keinem anderen Zweck bestimmte als zu dem, den Du für Ihn bestimmt hast. Verhilf Ihm darum zum Sieg durch Deine Heerscharen des Himmels und der Erde ... Verordne - Ich bitte Dich bei der Inbrunst Meiner Liebe zu Dir und bei Meiner Sehnsucht, Deine Sache zu offenbaren - verordne für Ihn und die, welche Ihn lieben, was Du für Deine Botschafter und die Treuhänder Deiner Offenbarung angeordnet. Wahrlich, Du bist der Allmächtige, der Allgewaltige.«

In einem von Bahá'u'lláh diktierten und durch Seinen Schreiber Mirzá Áqá Ján mit Anschrift versehenen Schreiben an 'Abdu'l-Bahá, der zu der Zeit auf Besuch in Beirut weilte, lesen wir: »Gepriesen sei Er, der das Land Bá (Beirut) mit der Anwesenheit Dessen ehrte, den alle Namen umkreisen. Sämtliche Atome der Erde haben allem Erschaffenen kundgetan, daß von den Toren der Gefängnisstadt her der Stern der Schönheit des großen, des Mächtigsten Zweiges Gottes - Sein urewiges und unabwandelbares Geheimnis - aufgegangen ist und, über ihrem Horizonte leuchtend, nun in ein anderes Land zieht. Kummer hat diese Gefängnisstadt darum erfüllt, dieweil ein anderes Land jubelt. Gesegnet, zweifach gesegnet ist der Boden, den Seine Fülle treten, das Auge, das von der Schönheit Seines Antlitzes entzückt ward, das Ohr, welchem die Ehre widerfahren, Seinem Ruf zu lauschen, das Herz, das Seiner Liebe Süße kostet, die Brust, die im Gedenken an Ihn weit wird, die Feder, die Seinen Lobpreis kündet, das Pergament, welches das Zeugnis Seiner Schrift trägt!«

#199

Die ihm von Bahá'u'lláh verliehene Autorität bestätigend, stellt 'Abdu'l-Bahá fest: »Im Einklang mit dem ausdrücklichen Wortlaut des Kitáb-i-Aqdas hat Bahá'u'lláh zum Ausleger seines Wortes den Mittelpunkt des Bündnisses gemacht - eines Bundes, so fest und so mächtig, wie ihn ähnlich keine religiöse Sendung seit Anbeginn der Zeit bis auf den heutigen Tag hervorgebracht hat.«

Wie erhaben aber der Rang 'Abdu'l-Bahás und wie überreich der Lobpreis immer sei, womit Bahá'u'lláh in diesen heiligen Büchern und Sendschreiben Seinen Sohn verherrlicht, so darf doch eine so beispiellose Auszeichnung nie in einem Sinn gedeutet werden, als verliehe sie ihrem Empfänger eine Stufe, die gleichbedeutend oder auch nur gleichwertig mit derjenigen Seines Vaters, der Manifestation selbst, ist. Irgendwelchen der angeführten Stellen eine derartige Auslegung zu geben, würde sie sofort aus einleuchtenden Gründen in Widerspruch mit den nicht weniger klaren und beglaubigten Versicherungen und Warnungen bringen, auf die ich bereits hinwies. In der Tat sind, wie ich schon weiter oben schrieb, diejenigen, die 'Abdu'l-Bahás Stufe überschätzen, genauso tadelnswert, und sie haben ebensoviel Schaden angerichtet wie diejenigen, die sie unterschätzen. Und das aus keinem anderen Grunde, als daß sie durch ihr Beharren auf einer völlig ungerechtfertigten Folgerung aus Bahá'u'lláhs Schriften unbewußt dem Feind eine Rechtfertigung erteilen und ihm fortdauernd Stoff für seine falschen Beschuldigungen und irreführenden Darstellungen liefern.

#200

Ich erachte es daher für nötig, eindeutig und ohne Zögern festzustellen, daß weder das Kitáb-i-Aqdas noch auch das Buch des Bundes Bahá'u'lláhs oder gar das Tablet vom Zweig oder irgendein anderes Sendschreiben, ob es nun von Bahá'u'lláh oder 'Abdu'l-Bahá offenbart sei, die geringste Begründung für die Auffassung enthält, die zur Aufrechterhaltung der sogenannten »mystischen Einheit« von Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá oder zur Annahme einer Identität des letzteren mit Seinem Vater oder mit einer der vorangegangenen Manifestationen neigt. Diese so irrige Auffassung entspringt zu einem Teil wohl einer völlig abwegigen Auslegung gewisser Ausdrücke und Stellen im Tablet vom Zweig und der Einfügung gewisser Worte in dessen englische Übersetzung, die entweder nicht vorhanden, oder irreführend und doppelsinnig sind. Sie gründet zweifellos hauptsächlich auf einer völlig ungerechtfertigten Schlußfolgerung aus den Anfangsstellen eines Tablets Bahá'u'lláhs, das in den »Bahá'í Scriptures« auszugsweise unmittelbar vor das genannte Tablet vom Zweig gestellt ist, ohne jedoch dazuzugehören. Es sollte jedem Leser dieser Auszüge klargemacht werden, daß mit dem Ausdruck »die Zunge des Urewigen« niemand anders als Gott gemeint, daß die Redewendung »der Größte Name« ein klarer Hinweis auf Bahá'u'lláh und das angeführte »Bündnis« nicht das besondere Bündnis ist, dessen unmittelbarer Begründer Bahá'u'lláh und dessen Mittelpunkt 'Abdu'l-Bahá war, sondern daß damit das allgemeine Bündnis gemeint ist, das, wie die Bahá'í-Lehre betont, Gott selbst unverbrüchlich mit der Menschheit schließt, sooft Er eine neue Sendung einleitet. »Die Zunge«, die, wie es in jenen Auszügen heißt, die »frohe Botschaft spendet«, ist nichts anderes als die Stimme Gottes, die sich auf Bahá'u'lláh bezieht, und nicht Bahá'u'lláh, der sich auf 'Abdu'l-Bahá bezöge.

Zu behaupten, daß die Versicherung »Er ist Ich selber« - statt die mystische Einheit Gottes mit Seinen Manifestationen zu bezeichnen, wie dies im Kitáb-i-Íqán erklärt ist -, die Identität Bahá'u'lláhs mit 'Abdu'l-Bahá begründe, würde geradezu eine Verletzung des oft wiederholten Grundsatzes der Einheit der Manifestationen Gottes bilden - eines Grundsatzes, den der Urheber eben jener Auszüge durch die sich daraus ergebende Folgerung betonen wollte.

#201

Es würde auch auf einen Rückfall in jene vernunftwidrigen, abergläubischen Glaubenssätze hinauslaufen, die sich im ersten Jahrhundert des christlichen Zeitalters unversehens in die Lehren Jesu Christi eingeschlichen und durch Verdichtung zu anerkannten Dogmen die Wirkkraft des christlichen Glaubens geschwächt und seine Absichten verdunkelt haben.

»Ich versichere«, so lautet 'Abdu'l-Bahás eigene schriftliche Auslegung des Tablets vom Zweig, »daß der wirkliche Sinn, die wahre Bedeutung, das innerste Geheimnis dieser Verse, eben dieser Worte, meine eigene Dienstbarkeit an der heiligen Schwelle der Schönheit Abhá, meine völlige Selbstaufgabe, meine äußerste Bedeutungslosigkeit vor Ihm ist. Das ist meine leuchtende Krone und meine köstlichste Zierde. Dessen rühme ich mich im Reiche, das im Himmel und auf Erden ist, dessen freue ich mich im Kreise der Begünstigten!« »Niemandem ist gestattet«, so warnt Er uns im unmittelbar darauf folgenden Absatz, »diesen Versen irgendeinen anderen Sinn zu geben.« »Ich bin«, bekräftigt Er in diesem Zusammenhang»,gemäß dem ausdrücklichen Wortlaut des Kitáb-i-Aqdas und des Kitáb-i-'Ahd, der offenbare Ausleger des Wortes Gottes. Wer auch immer von mein er Auslegung abweicht, ist ein Opfer seiner eigenen Einbildung.«

Noch mehr: Die unvermeidliche Schlußfolgerung aus dem Glauben an die Identität des Begründers unseres Glaubens mit ihm, welcher der Mittelpunkt Seines Bündnisses ist, wäre, daß 'Abdu'l-Bahá in eine über den Báb erhobene Stellung rückte, während das gerade Gegenteil davon das grundlegende, wenn auch bislang noch nicht allgemein erkannte Prinzip dieser Offenbarung ist. Es würde auch die Beschuldigungen rechtfertigen, mit denen die Bündnisbrecher sich während der ganzen Amtszeit 'Abdu'l-Bahás bemühten, die Gemüter zu vergiften und die Auffassung der getreuen Nachfolger Bahá'u'lláhs zu verdrehen.

#202

Es wäre richtiger und stünde mit den festgelegten Prinzipien Bahá'u'lláhs und des Báb in besserem Einklang, wenn wir, statt an dieser erdichteten Identität in Bezug auf 'Abdu'l-Bahá festzuhalten, den Vorläufer und den Begründer unseres Glaubens als ihrer Wirklichkeit nach identisch ansähen - eine Wahrheit, die der Wortlaut der Súratu'l-Haykal unmißverständlich bestätigt. »Wäre, wie ihr geltend macht, der Erste Punkt (der Báb) irgend jemand außer Mir gewesen«, so lautet die ausdrückliche Feststellung Bahá'u'lláhs, »und wäre Er in Meine Nähe gekommen, wahrlich, Er hätte sich nie gestattet, sich von Mir zu trennen, sondern Wir würden Uns in Meinen Tagen gegenseitig ergötzt haben.« »Er, der nun Gottes Wort verkündigt«, so bekräftigt Bahá'u'lláh nochmals, »ist kein anderer als der Erste Punkt, der jetzt aufs neue offenbart ward.« »Er ist«, so sagt Er in einem an einen der Buchstaben des Lebendigen gerichteten Sendschreiben über sich selber, »der Gleiche wie Er, der im Jahre sechzig (1260 d.H.) erschien. Das, wahrlich, ist einer seiner machtvollen Zeichen.« »Wer», so fragt Er in der Súiy-i-Damm, »wird sich erheben, um den Sieg der Ersten Schönheit (des Báb) zu sichern, die im Angesicht Seiner Ihm folgenden Manifestation offenbart wurde?« Indem Er sich auf die durch den Báb verkündete Offenbarung bezieht, beschreibt Er sie umgekehrt als »Meine Mir vorangegangene Manifestation«.

#203

Daß 'Abdu'l-Bahá keine Manifestation Gottes ist, daß Er sein Licht, Seine Erleuchtung und Kraft unmittelbar aus der Quelle der Bahá'í-Offenbarung erhält, daß Er, gleich einem klaren und vollkommenen Spiegel, das Licht der Herrlichkeit Bahá'u'lláhs zurückstrahlt und nicht etwa angestammt jene unbestimmbare und dennoch alles durchdringende Wirklichkeit besitzt, deren ausschließlicher Besitz das Kennzeichen des Prophetentums bildet, daß Seine Worte nicht im gleichen Range mit den Äußerungen Bahá'u'lláhs stehen, obwohl sie die gleiche Gültigkeit wie jene besitzen, daß Er nicht als die Wiederkehr Jesu Christi anzusehen ist, des Sohnes, der da kommen wird »in der Herrlichkeit des Vaters«; alle diese Wahrheiten finden eine verstärkte Rechtfertigung und weitere Erhärtung in der folgenden Erklärung 'Abdu'l-Bahás an einige Gläubige in Amerika, mit der ich diesen Abschnitt angemessen schließen möchte: »Ihr habt geschrieben, daß unter den Gläubigen verschiedene Meinungen über das 'Zweite Kommen Christi' bestehen. Gütiger Gott! Immer und immer wieder ist diese Frage aufgetaucht und zur Antwort daraufhin klarer in und unwiderleglicher Darlegung aus der Feder 'Abdu'l-Bahás geflossen, daß das, was die Prophezeiungen mit dem 'Herren der Heerscharen' und dem 'Verheißenen Christus' meinten, die Gesegnete Vollkommenheit (Bahá'u'lláh) und seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb) ist. Mein Name ist 'Abdu'l-Bahá. Meine Auszeichnung ist 'Abdu'l-Bahá. Meine Wirklichkeit ist 'Abdu'l-Bahá. Mein Ruhm ist 'Abdu'l-Bahá. Unterwerfung unter die Gesegnete Vollkommenheit ist meine köstliche und strahlende Krone und Dienst am ganzen Menschengeschlecht meine immerwährende Religion ... Kein anderer Name, kein Titel, keine Erwähnung, keine Empfehlung ist mir eigen, noch will ich sie je zu eigen haben denn nur 'Abdu'l-Bahá. Das ist mein Wunsch. Das ist meine größte Sehnsucht. Das ist mein ewiges Leben. Das ist meine nie vergehende Ehre!«

#203
Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung

+6:4

Innig geliebte Brüder in 'Abdu'l-Bahá! Mit dem Heimgang Bahá'u'lláhs war das Tagesgestirn göttlicher Führung, das sich, wie von Shaykh Ahmad und Siyyid Kázim vorausgesagt, in Shiráz erhoben und in seinem Lauf nach Westen den Höhepunkt in Adrianopel erreicht hatte, schließlich am Horizont von 'Akká untergegangen, um sich vor Ablauf eines vollen Jahrtausends nicht wieder zu erheben. Das Sinken eines so strahlenden Himmelskörpers schloß endgültig die Periode göttlicher Offenbarung, das erste und stärkstbelebende Stadium des Bahá'í-Zeitalters, ab. Durch den Báb begonnen, in Bahá'u'lláh gipfelnd, von der ganzen Schar der Propheten dieses großen prophetischen Zyklus vorausgesehen und gepriesen, ist dieser Zeitabschnitt, mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung zwischen dem Märtyrertod des Báb und den erschütternden Erlebnissen Bahá'u'lláhs im Siyáh-Chál von Tihrán, gekennzeichnet durch fast fünfzig Jahre andauernder und fortschreitender Offenbarung, eine Zeitfolge, die durch Dauer und Fruchtbarkeit als beispiellos auf dem ganzen Feld der Weltgeschichte des Geistes betrachtet werden muß.

#205

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás hinwieder bezeichnet das Ende des Heroischen und Apostolischen Zeitalters dieser Sendung, das Ende jener Anfangszeit unseres Glaubens, deren Glanz nie durch die Herrlichkeit übertroffen und noch viel weniger verdunkelt werden kann, die sicherlich die künftigen Siege der Offenbarung Bahá'u'lláhs bezeichnen wird. Denn weder die Großtaten der Hauptschöpfer der heutigen Institutionen des Glaubens Bahá'u'lláhs noch die stürmischen Triumphe, welche die Helden seines Goldenen Zeitalters in kommenden Tagen erringen werden, können sich mit dem wunderbaren Werk messen, das mit den Namen derer verbunden ist, die sein wahres Leben gezeugt und seinen ursprünglichen Grund gelegt haben, noch dürfen sie mit ihnen gleichgeordnet werden. Jener erste, schöpferische Abschnitt des Bahá'í-Zeitalters muß aus seiner ureigensten Natur heraus über und abseits von der gestaltgebenden Periode, in die wir jetzt eingetreten sind, und dem Goldenen Zeitalter stehen, das ihr zu folgen bestimmt ist.

'Abdu'l-Bahá, der eine Institution verkörpert, für die wir keinerlei Gegenstück in irgendeinem der anerkannten religiösen Weltsysteme finden, kann als Abschluß des Zeitalters, dem Er selber angehörte, und zugleich als Eröffner desjenigen, in dem wir heute arbeiten, angesprochen werden. Sein Wille und Testament sollte daher als das dauernde, unzerstörbare Bindeglied betrachtet werden, das der Geist dessen, der das Geheimnis Gottes ist, empfangen hat, um die Folge der drei Zeitalter zu sichern, welche die Bestandteile der Bahá'í-Sendung bilden. Auf solche Weise ist jene Periode, in der die Saat des Glaubens langsam zu keimen begann, mit derjenigen verflochten, die Zeuge seines Aufblühens sein muß, wie auch mit dem späteren Zeitalter, in dem diese Saat schließlich ihre goldenen Früchte tragen wird.

#206

Die durch das Gesetz Bahá'u'lláhs freigelegten schöpferischen Kräfte durchfluteten und entwickelten den Geist 'Abdu'l-Bahás und haben durch unmittelbaren Antrieb und engste Wechselwirkung ein Instrument hervorgebracht, das als die Charta der neuen Weltordnung angesehen werden mag, die zugleich der Glanz und die Verheißung dieser größten Sendung ist. Dieser letzte Wille kann daher als die ganz natürliche Frucht begrüßt werden, die aus jener mystischen Verbindung zwischen Ihm, der den erregenden Einfluß Seiner göttlichen Absicht übermittelte, und Dem, der dessen Träger und erwählter Empfänger war, hervorging. Als Kind des Bündnisses, Erbe des Urhebers sowohl als auch des Auslegers des Gesetzes Gottes, kann der Wille und das Testament 'Abdu'l-Bahás von Ihm, der den ursprünglichen Antrieb abgab, so wenig getrennt werden wie von Dem, der ihn letztlich empfing. Bahá'u'lláhs unerforschlicher Plan hat, wie wir uns stets vor Augen halten müssen, die Handlungsweise 'Abdu'l-Bahás so vollständig durchdrungen, ihre Beweggründe waren derart eng verbunden, daß der bloße Versuch, die Lehren Bahá'u'lláhs von einem durch das vollkommene Vorbild dieser selben Lehren eingeführten System zu trennen, der Verleugnung einer der heiligsten, grundlegenden Wahrheiten des Glaubens gleichkäme.

Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die sich seit 'Abdu'l-Bahás Hingang ständig weiter entwickelt hat und unter unseren Augen in nicht weniger als vierzig Ländern der Welt Gestalt annimmt, kann als das Rahmenwerk des Willens und Testaments betrachtet werden, als eine unzerstörbare Burgfeste, in der dieses neugeborene Kind gehegt wird und heranwächst. Diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung wird, indem sie sich ausdehnt und festigt, zweifellos die Möglichkeiten und die volle Tragweite jenes bedeutsamen Dokuments, jenes bemerkenswertesten Willensausdrucks einer der hervorragendsten Gestalten der Sendung Bahá'u'lláhs enthüllen. Sie wird, da ihre Elemente, ihre organischen Institutionen mit Kraft und Nachdruck wirksam zu werden beginnen, ihren Anspruch geltend machen und ihre Eignung dartun, nicht nur als der erste Anfang, sondern geradezu als das Modell der neuen Weltordnung angesehen zu werden, die dazu bestimmt ist, zur festgesetzten Zeit die ganze Menschheit zu umfassen.

#207

Es muß in diesem Zusammenhang bemerkt werden, daß diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung sich insofern grundlegend von allem, was irgendein Prophet vordem eingesetzt hat, unterscheidet, als Bahá'u'lláh selbst ihre Grundlagen offenbart, ihre Institutionen begründet, die Persönlichkeit, die Sein Wort auszulegen hat, berufen und der Körperschaft, die Seine Gesetze und Gebote zu ergänzen und anzuwenden bestimmt ist, die erforderliche Amtsgewalt verliehen hat. Hierin liegt das Geheimnis ihrer Kraft, ihre grundlegende Besonderheit und ihr Schutz vor Auflösung und Spaltung. Nirgendwo in den heiligen Schriften irgendeines der religiösen Weltsysteme, selbst nicht in den Schriften des Begründers der Bábí-Sendung, finden wir irgendwelche Vorkehrungen für die Errichtung eines Bündnisses oder für eine Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die sich an Ausmaß und Autorität mit denen vergleichen lassen, welche die eigentliche Grundlage der Bahá'í-Sendung bilden. Haben z. B. Christentum und Islám, um nur zwei der weitestverbreiteten und hervorragendsten unter den anerkannten Religionen der Welt zu nennen, etwas aufzuweisen, das mit dem Buch des Bündnisses Bahá'u'lláhs oder mit dem Willen und Testament 'Abdu'l-Bahás gemessen oder als ihnen gleichwertig erachtet werden könnte? Wird durch den Text des Evangeliums oder des Qur'án den Führern und Körperschaften, die das Recht beanspruchen und die Aufgabe übernommen haben, die Verordnungen ihrer heiligen Schriften auszulegen und die Angelegenheiten der betreffenden Gemeinschaften zu verwalten, ausreichende Autorität verliehen? Konnte Petrus, das anerkannte Oberhaupt der Apostel, oder der Imám 'Alí, der Vetter und rechtmäßige Nachfolger des Propheten, zur Bekräftigung des Vorrangs, mit dem sie beide ausgestattet waren, schriftliche und ausdrückliche Bestätigungen von Christus und Muhammad aufweisen, mit denen sie diejenigen zum Schweigen hätten bringen können, die unter ihren Zeitgenossen oder in einer späteren Zeit ihre Autorität zurückgewiesen und durch ihre Handlungsweise die bis auf den heutigen Tag fortbestehenden Glaubensspaltungen beschleunigt haben? Wo, so dürfen wir getrost fragen, können wir in den Überlieferten Aussprüchen Jesu Christi, mag es sich nun um die Frage der Nachfolge oder um die Verfügung besonderer Gesetze und genau umrissener Verwaltungsanordnungen handeln, neben den rein geistigen Prinzipien irgend etwas finden, das den ausführlichen Vorschriften, Gesetzen und Warnungen nahekommt, die in den verbürgten Äußerungen sowohl Bahá'u'lláhs als auch 'Abdu'l-Bahás in reicher Fülle vorliegen? Kann irgendein Abschnitt des Qur'án, der hinsichtlich seiner Gesetze, Verwaltungs- und Andachtsvorschriften bereits einen bemerkenswerten Fortschritt gegenüber früheren, stärker verfälschten Offenbarungen aufweist, dahin ausgelegt werden, daß er die von Muhammad Seinem Nachfolger mündlich bei verschiedenen Gelegenheiten verliehene Amtsgewalt unangreifbar untermauert? Kann vom Begründer der Bábi-Sendung, so sehr Er es auch durch die Vorschriften des Persischen Bayán vermocht hat, eine so bleibende und verhängnisvolle Glaubensspaltung abzuwenden, wie sie die Christenheit und den Islám befallen hat, - kann von Ihm gesagt werden, daß Er Einrichtungen zum Schutze Seines Glaubens geschaffen hat, die so fest umrissen und wirksam sind wie diejenigen, die für alle Zeit die Einheit der organisierten Anhänger des Glaubens Bahá'u'lláhs bewahren müssen?

#209

Allein diesem Glauben ist es im Unterschied zu allen ihm vorangegangenen Offenbarungen gelungen, durch die in seinen Lehren verkörperten und herausgearbeiteten ausdrücklichen Schutzbestimmungen, wiederholten Ermahnungen und verbürgten Sicherungen ein Bauwerk zu errichten, dem sich die verwirrten Anhänger zugrundegerichteter, zerbrochener Glaubensbekenntnisse ruhig nähern und das sie kritisch prüfen mögen, um, ehe es zu spät ist, die unverletzliche Sicherheit seines weltumfassenden Schutzes aufzusuchen.

Kann es darnach wundernehmen, wenn Er, der durch die Äußerung Seines Willens eine derart weitreichende, einzigartige Ordnung ins Leben rief und der Mittelpunkt eines so mächtigen Bündnisses ist, die folgenden Worte niedergeschrieben hat: »So fest und mächtig ist dieses Bündnis, daß seit Anbeginn der Zeiten bis zum heutigen Tag keine religiöse Sendung etwa Gleiches hervorgebracht hat.« »Was immer im Innersten dieses heiligen Zyklus verborgen ruht«, schrieb Er in den trübsten und gefährlichsten Tagen Seines Wirkens, »wird nach und nach erscheinen und offenkundig werden, denn dies ist erst der Anfang seines Wachstums und der Tagesanbruch der Offenbarung seiner Zeichen.« »Fürchtet euch nicht«, lauten die beruhigenden Worte, mit denen Er den Aufstieg der in Seinem Willen niedergelegten Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung vorausahnte, »fürchtet euch nicht, wenn dieser Zweig von der stofflichen Welt getrennt wird und seine Blätter abwirft. Nein, seine Blätter sollen grünen, denn dieser Zweig wird wachsen, nachdem er von der Welt hier unten ab geschnitten wurde. Er soll die höchsten Gipfel der Herrlichkeit erreichen und Früchte tragen, welche die Welt mit ihrem Wohlgeruch erfüllen werden.«

#210

Worauf sonst als auf die Macht und Majestät, die diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, die Grundlage der zukünftigen allumfassenden Bahá'í-Gemeinschaft, zu offenbaren bestimmt ist, könnten die nachstehenden Worte Bahá'u'lláhs hinweisen: »Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser größten, dieser neuen Weltordnung. Das geregelte Leben der Menschen ist aufgewühlt durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems, desgleichen kein sterbliches Auge je gesehen hat.«

Auch der Báb sieht im Zuge Seiner Hinweise auf »Den, welchen Gott offenbaren wird«, das System voraus und verherrlicht die Weltordnung, welche die Offenbarung Bahá'u'lláhs zu entfalten bestimmt ist. »Wohl dem«, so heißt es in Seiner bedeutsamen Erklärung im dritten Kapitel des Persischen Bayán»,der seinen Blick auf die Ordnung Bahá'u'lláhs lenkt und seinem Herren dankt! Denn Er wird sicherlich offenbar werden. Gott hat es wahrlich unwiderruflich im Bayán verordnet.«

Aus den Schriften Bahá'u'lláhs, in denen die Institutionen des internationalen und der örtlichen Häuser der Gerechtigkeit eingehend bezeichnet und förmlich festgelegt sind, aus der Institution der Hände der Sache Gottes, die zuerst Bahá'u'lláh, darnach 'Abdu'l-Bahá ins Leben riefen, aus der Institution der örtlichen und nationalen Räte, die in ihrer frühen Entwicklungsform bereits in den Tagen vor dem Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás tätig waren, aus der Amtsgewalt, womit sie der Gründer unseres Glaubens und der Mittelpunkt Seines Bündnisses in Ihren Schriften auszustatten beliebten, aus der Institution des örtlichen Fonds, der nach den von 'Abdu'l-Bahá an bestimmte Räte in Persien gerichteten genauen Anweisungen gehandhabt wurde, aus den Versen des Kitáb-i-Aqdas, die in ihren Folgerungen deutlich die Institution des Hütertums vorwegnehmen, aus der Erklärung, die 'Abdu'l-Bahá in einem Seiner Sendschreiben für das von den Propheten der Vergangenheit hochgehaltene Erbprinzip und das Erstgeburtsrecht gab, sowie aus dem Nachdruck, den Er darauf legte - aus alledem können wir bereits den schwachen Schimmer und die ersten Andeutungen des Wesens und Wirkens der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung erkennen, die dazu ausersehen war, zu einem späteren Zeitpunkt durch den Letzten Willen 'Abdu'l-Bahás verkündet und förmlich begründet zu werden.

#211

An dieser Stelle sollte nach meinem Empfinden versucht werden, das Wesen und die Aufgaben der Zwillingspfeiler zu erklären, die diesen mächtigen Verwaltungsbau tragen: der Institutionen des Hütertums und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Die verschiedenen bei diesen Institutionen mitwirkenden Elemente in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, steht außerhalb meiner Absicht und des Zweckes dieser allgemeinen Darlegung der Grundwahrheiten des Glaubens. Sorgfältig und genau die Grundzüge zu umreißen und erschöpfend das Wesen der Verwandtschaft zu untersuchen, die einerseits diese beiden grundlegenden Organe des Letzten Willens 'Abdu'l-Bahás miteinander verbindet, andererseits ein jedes von ihnen mit dem Begründer des Glaubens und dem Mittelpunkt Seines Bündnisses verknüpft, ist eine Aufgabe, die spätere Geschlechter zweifellos angemessen erfüllen werden. Meine augenblickliche Absicht ist, gewisse hervortretende Merkmale dieses Systems herauszuarbeiten, die, wie dicht wir auch vor seinem Riesenbau stehen mögen, sich doch bereits so klar abzeichnen, daß es unverzeihlich wäre, sie fehlzudeuten oder außer acht zu lassen.

#212

Es muß gleich zu Anfang klar und unzweideutig festgestellt werden, daß diese Zwillingsinstitutionen der Verwaltung als göttlich, ihren Aufgaben nach als unentbehrlich, ihrem Zweck nach als einander ergänzend anzusehen sind. Ihr gemeinsames, grundlegendes Ziel ist, den Fortbestand jener göttlich verordneten Amtsgewalt zu sichern, die aus der und Gesellschaftsordnung Bahá'u'lláhs ihrem Ursprung nach Quelle unseres Glaubens fließt, die Einheit seiner Anhänger zu wahren und seine Lehren unversehrt und anpassungsfähig zu erhalten. In Zusammenarbeit miteinander verwalten diese beiden untrennbaren Institutionen die Angelegenheiten des Glaubens, stimmen seine Tätigkeiten aufeinander ab, fördern seine Belange, vollziehen seine Gesetze und schützen seine Untergliederungen. Getrennt voneinander wirkt jede in einem klar umgrenzten Rechtsbereich, jede ist mit eigenen Hilfsinstitutionen ausgestattet, Werkzeugen für die wirksame Erledigung ihrer besonderen Verantwortlichkeiten und Pflichten, jede übt innerhalb der ihr gesetzten Grenzen ihre Gewalt, Autorität, Rechte und Vorrechte aus, und diese stehen weder in Widerspruch zueinander, noch schmälern sie im geringsten die Stellung, welche jede dieser Institutionen einnimmt. Weit davon entfernt, miteinander unvereinbar zu sein oder sich gegenseitig zu stören, ergänzen sie einander in ihrer Amtsgewalt und ihren Aufgaben und sind in ihren Zielen dauernd und grundlegend vereinigt.

#213

Abgesondert von der Institution des Hütertums wäre die Weltordnung Bahá'u'lláhs verstümmelt und dauernd des Grundsatzes der Erblichkeit beraubt, der, wie 'Abdu'l-Bahá schreibt, unverändert durch das Gesetz Gottes hochgehalten worden ist.»In allen göttlichen Sendungen«, so erklärt Er in einem an einen Anhänger des Glaubens in Persien gerichteten Sendschreiben,»ist dem ältesten Sohne eine außerordentliche Auszeichnung zuteil geworden. Sogar die Stufe der Prophetenschaft ist das Recht seiner Erstgeburt gewesen.« Ohne eine solche Einrichtung würde die Ganzheit des Glaubens gefährdet; die Reißfestigkeit seines Gewebes wäre schwer bedroht. Sein Ansehen litte, die Mittel für einen weiten ununterbrochenen Ausblick auf eine Reihe von Generationen fehlten völlig und die notwendige Führung für die Grenzziehung um den Gesetzgebungsbereich seiner gewählten Vertreter wäre entzogen.

Getrennt von der nicht minder wesentlichen Institution des Universalen Hauses der Gerechtigkeit wäre diese nämliche Ordnung des Willens 'Abdu'l-Bahás in ihrer Wirksamkeit gehemmt und außerstande, die Lücken auszufüllen, die der Schöpfer des Kitáb-i-Aqdas mit Bedacht im Gefüge Seiner Gesetzes- und Verwaltungsanordnungen gelassen hat.

»Er ist der Ausleger des Wortes Gottes«, erklärt 'Abdu'l-Bahá zu den Aufgaben des Hüters des Glaubens, wobei Er in seinem Letzten Willen genau denselben Ausdruck anwendet, den Er bei der Zurückweisung der Anfechtungsbegründung durch die Bündnisbrecher wählte, die Sein Recht zur Auslegung der Äußerungen Bahá'u'lláhs bestritten hatten. »Ihm wird«, fügt Er hinzu, »der Erstgeborene seiner unmittelbaren Abkömmlinge folgen.« »Die mächtige Feste«, erklärt Er weiter, »wird durch den Gehorsam gegen ihn, der der Hüter der Sache Gottes ist, uneinnehmbar und sicher bleiben.« »Die Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit, alle Aghsán, die Afnán und die Hände der Sache Gottes sind verpflichtet, dem Hüter der Sache Gottes ihren Gehorsam, ihre Ergebenheit und Unterordnung zu erzeigen.«

»Die Vertrauensleute des Hauses der Gerechtigkeit haben die Pflicht«, erklärt Bahá'u'lláh andererseits auf dem achten Blatt des Erhabenen Paradieses»,über jene Dinge zu beraten, die nicht ausdrücklich im Buche offenbart sind, und durchzusetzen, was ihnen genehm ist. Gott wird ihnen wahrlich eingeben, was Er will, und Er ist, wahrlich, der Versorger, der Allwissende.«

#214

»Dem Heiligsten Buch« (dem Kitáb-i-Aqdas), erklärt 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen, »muß sich jeder zuwenden, und alles, was nicht ausdrücklich darin erwähnt ist, muß an das Universale Haus der Gerechtigkeit überwiesen werden. Was durch diese Körperschaft einstimmig oder durch Stimmenmehrheit angenommen wird, ist in der Tat die Wahrheit und Gottes Absicht. Wer davon abweicht, gehört fürwahr zu denen, die Zwietracht lieben, sich böswillig gezeigt und von dem Herrn des Bundes abgewendet haben.«

'Abdu'l-Bahá bestätigt in Seinem Willen nicht nur die oben erwähnte Erklärung Bahá'u'lláhs, sondern er belehnt diese Körperschaft auch mit dem weiteren Recht und der Vollmacht, sowohl die eigenen gesetzlichen Verfügungen als auch diejenigen eines vorangegangenen Hauses der Gerechtigkeit je nach den Zeiterfordernissen aufzuheben. »Wie das Haus der Gerechtigkeit«, so heißt es ausdrücklich in Seinem Willen», die Gewalt hat, Gesetze zu erlassen, die nicht ausdrücklich im Buche verzeichnet sind und zeitlichen Erfordernissen entsprechen, so hat es auch die Gewalt, sie wieder außer Kraft zu setzen ... Es kann dies tun, weil diese Gesetze keinen Teil des ausdrücklichen göttlichen Textes bilden.«

#215

Hinsichtlich beider, des Hüters und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, lesen wir folgende eindringlichen Worte: »Der heilige und jugendliche Zweig, der Hüter der Sache Gottes, sowie das Universale Haus der Gerechtigkeit, das universal zu wählen und einzusetzen ist, stehen beide unter dem Schutz und Schirm der Schönheit Abhá, unter der Obhut und unfehlbaren Führung des Erhabenen (des Báb) - möge mein Leben für beide geopfert werden. Was immer sie bestimmen, ist von Gott.«

Aus diesen Darlegungen wird unzweifelhaft klar und deutlich, daß der Hüter des Glaubens zum Ausleger des Wortes gemacht und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit die Gesetzgebungsgewalt für die Gegenstände verliehen worden ist, die nicht ausdrücklich in den Lehren offenbart sind. Die Auslegung durch den Hüter ist innerhalb seines Bereiches ebenso autoritativ und bindend wie die Entscheidungen des Internationalen Hauses der Gerechtigkeit, dessen ausschließliches Recht und Privileg es ist, über solche Gesetze und Anordnungen zu befinden und letztgültig zu entscheiden, die Bahá'u'lláh nicht ausdrücklich offenbart hat. Keine von beiden Institutionen kann und wird je in das geweihte und festgelegte Gebiet der anderen übergreifen, keine von ihnen versuchen, die besondere, unbestrittene Amtsgewalt zu schmälern, mit der beide von Gott her ausgestattet wurden.

Obwohl der Hüter des Glaubens zum ständigen Haupt einer so erhabenen Körperschaft gemacht worden ist, kann er doch nie, und wäre es nur vorübergehend, das Recht ausschließlicher Gesetzgebung beanspruchen. Er kann die Entscheidung der Mehrheit seiner Mitglieder nicht umstoßen, ist jedoch verpflichtet, bei jeder Gesetzesvorlage auf einer nochmaligen Behandlung durch sie zu bestehen, wenn sie nach seinem Gewissen dem Sinn der offenbarten Äußerungen Bahá'u'lláhs widerspricht und von deren Geiste abweicht. Er legt aus, was ausdrücklich offenbart worden ist, und kann nicht gesetzgeberisch tätig sein, es sei denn in seiner Eigenschaft als Mitglied des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Es ist ihm verwehrt, alleine die Verfassung zu schaffen, welche die geordnete Tätigkeit seiner Mitglieder leiten muß, oder seinen Einfluß so auszuüben, daß die Freiheit jener beeinträchtigt werden könnte, deren geheiligtes Recht es ist, die Körperschaft seiner Mitarbeiter zu wählen.

#216

Es sollte nicht vergessen werden, daß 'Abdu'l-Bahá die Institution des Hütertums bereits in einer Andeutung vorweggenommen hat, die Er, lang vor Seinem eigenen Heimgang, in einem Sendschreiben an drei Seiner Freunde in Persien machte. Auf ihre Frage, ob jemand da sei, an den sich alle Bahá'í nach Seinem Tod zu wenden hätten, gab Er folgende Antwort: »Was eure an mich gerichtete Frage anbelangt, so wisset fürwahr, daß die Antwort darauf ein wohlbehütetes Geheimnis ist. Sie ist wie die Perle, die verborgen in der Muschel ruht. Daß sie enthüllt werde, ist vorherbestimmt. Die Zeit wird kommen, da ihr Licht erscheint, da ihre Zeichen kundgetan und ihre Geheimnisse enträtselt werden.«

Innig geliebte Freunde! Wie erhaben die Stellung und wie wesentlich die Aufgabe der Institution des Hütertums in der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung Bahá'u'lláhs auch sein mag, wie überwältigend das Gewicht der von ihr getragenen Verantwortung immer bleiben muß, so darf doch ihre Wichtigkeit, gleichviel, wie die Sprache des Letzten Willens sei, durchaus nicht überbetont werden. Der Hüter des Glaubens darf unter keinen Umständen, wie groß auch seine Verdienste oder Taten seien, zu einem Rang erhoben werden, der ihn mit 'Abdu'l-Bahá an jener einzigartigen Stellung teilhaben läßt, die der Mittelpunkt des Bundes einnimmt, und noch viel weniger zu der ausschließlich der Manifestation Gottes vorbehaltenen Stufe. Ein so schweres Abweichen von den feststehenden Grundsätzen unseres Glaubens würde nicht weniger als offene Gotteslästerung bedeuten. Ich habe schon in meinen Ausführungen über die Stufe 'Abdu'l-Bahás dargelegt: Wie groß auch der Abstand sein mag, der Ihn von dem Urheber einer göttlichen Offenbarung trennt, so läßt sich dieser Abstand doch niemals mit demjenigen vergleichen, der zwischen Ihm, dem Mittelpunkt des Bundes Bahá'u'lláhs, und Seinen auserwählten Werkzeugen, den Hütern, ist. Es liegt ein weit, weit größerer Abstand zwischen dem Hüter und dem Mittelpunkt des Bundes, als er zwischen dem Mittelpunkt des Bundes und seinem Urheber besteht.

#217

Kein Hüter des Glaubens - ich fühle die feierliche Pflicht zu dieser Feststellung - kann je beanspruchen, das vollkommene Beispiel der Lehren Bahá'u'lláhs oder den fleckenlosen Spiegel darzustellen, der Sein Licht zurückstrahlt. Obzwar er durch den unfehlbaren, nie irrenden Schutz Bahá'u'lláhs und des Báb beschirmt wird und in so hohem Maße mit 'Abdu'l-Bahá Recht und Pflicht, die Bahá'í-Lehren auszulegen, teilen mag, so bleibt er im Wesen dennoch Mensch und kann, wenn er das ihm übertragene Treuamt wahren will, unter keinerlei Vorwand für sich die Rechte und Privilegien in Anspruch nehmen, die Bahá'u'lláh Seinem Sohne zu verleihen beliebt hat. Zum Hüter des Glaubens zu beten, ihn als Herr und Meister anzureden, als »Seine Heiligkeit« zu bezeichnen, seinen Segen zu suchen, seinen Geburtstag zu feiern oder irgendein Ereignis, das mit seinem Leben verknüpft ist, festlich zu begehen, wäre im Lichte dieser Wahrheit gleichbedeutend mit einem Abgehen von den in unserem geliebten Glauben verankerten und festgesetzten Wahrheiten. Die Tatsache, daß dem Hüter die zur Sinnfindung und Ausfolgerung der Worte Bahá'u'lláhs und 'Abdu'l-Bahás erforderliche besondere Gewalt verliehen worden ist, braucht ihm nicht notwendig eine gleiche Stufe mit Denen einzuräumen, deren Worte auszulegen er berufen ist. Er kann dieses Recht ausüben, dieser Verpflichtung nachkommen und doch gegenüber beiden im Rang unendlich viel niedriger und wesenhaft von Ihnen verschieden sein.

#218

Die Unverletzlichkeit dieses Hauptgrundsatzes unseres Glaubens muß durch die Worte und Taten seines gegenwärtigen Hüters wie auch der kommenden reich bezeugt werden. Sie müssen in Führung und Beispiel seine Wahrheit unerschütterlich fest begründet aufrichten und kommenden Geschlechtern unanfechtbare Beweise seiner Echtheit übermitteln.

Was mich betrifft, so müßte jedes Zögern in der Anerkennung einer so wesentlichen Wahrheit oder ein Schwanken in der Verkündung einer so festen Überzeugung einen schamlosen Verrat an dem durch 'Abdu'l-Bahá in mich gesetzten vertrauen und eine unverzeihliche Anmaßung der Autorität darstellen, die Ihm selbst verliehen worden ist.

Es sollte hier noch ein Wort über die Idee, auf der diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung gründet, und über den Grundsatz, der die Arbeitsweise ihrer Hauptinstitutionen beherrschen muß, gesagt werden. Völlig irreführend wäre es, einen Vergleich zwischen dieser einzigartigen, gottempfangenen Ordnung und irgendeinem der vielen Systeme zu versuchen, die der Menschengeist zu verschiedenen Zeiten der Geschichte für die Herrschaft menschlicher Institutionen ersonnen hat. Ein solcher Versuch verriete an und für sich schon einen Mangel an voller Wertschätzung für die Vortrefflichkeit des Werkes ihres großen Urhebers.

Wie könnte dem auch anders sein, wenn wir bedenken, daß diese Ordnung das wahre Muster jener göttlichen Zivilisation abgibt, die auf Erden zu errichten das allmächtige Gesetz Bahá'u'lláhs bestimmt ist. Die verschiedenen, sich ständig ändernden Systeme menschlicher Staatskunst, die gestrigen wie die heutigen, östlichen wie westlichen Ursprungs, bieten keinen geeigneten Vergleich dafür, die Macht ihrer verborgenen Wirkungsmöglichkeiten zu ermessen oder die Gediegenheit ihrer Grundlagen abzuschätzen.

#219

Das Bahá'í-Gemeinwesen der Zukunft, für das diese umfassende administrative Ordnung das alleinige Rahmenwerk bildet, steht sowohl der Theorie als auch der Praxis nach nicht nur einzig in der gesamten Geschichte der politischen Institutionen, sondern auch ohne Gegenstück in den Annalen aller anerkannten Religionssysteme der Welt da. Keine Form demokratischer Regierung, kein System autokratischer oder diktatorischer Art, sei es monarchisch oder republikanisch, kein Mischkonzept einer rein aristokratischen Ordnung und selbst keine der anerkannten Formen der Theokratie, sei es nun das hebräische Gemeinwesen, seien es die verschiedenen christlichen Kirchenorganisationen, das Imamat oder Kalifat im Islám - keines von ihnen kann mit der von der Meisterhand ihres vollendeten Architekten gebildeten administrativen Ordnung gleichgesetzt oder als mit ihr übereinstimmend bezeichnet werden.

Diese neugeborene Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung hat in ihrer Struktur gewisse Elemente vereinigt, die in jeder der drei anerkannten Arten weltlicher Herrschaftsform zu finden sind, ohne doch in irgendeiner Hinsicht eine bloße Wiederholung einer von ihnen zu sein und ohne in ihren Mechanismus irgendwelche der zu beanstandenden Kennzeichen einzuführen, die jenen angestammtermaßen eigen sind. Sie verschmilzt und bringt, wie keine von sterblicher Hand geformte Herrschaft es jemals vollbracht hat, die zweifellos in jedem dieser Systeme enthaltenen gesunden Bestandteile miteinander in Einklang, ohne die Reinheit jener gottgegebenen Wahrheiten, auf die sie sich letzten Endes gründet, zu verfälschen.

#220

Die Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung des Glaubens Bahá'u'lláhs darf insofern keineswegs als rein demokratisch angesehen werden, als die Grundvoraussetzung, die alle Demokratien in ihren Mandaten grundsätzlich vom Volk abhängen läßt, in dieser Sendung völlig fehlt. Bei der Handhabung der administrativen Angelegenheiten des Glaubens und bei der Gesetzgebung, die zur Ergänzung der Gesetze des Kitáb-i-Aqdas notwendig ist, sind die Mitglieder des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, wie wir im Auge behalten sollten, nach Bahá'u'lláhs klaren Worten nicht verantwortlich gegenüber jenen, die sie vertreten, noch ist ihnen gestattet, sich von den Gefühlen, der allgemeinen Meinung und selbst der Überzeugung der Menge der Gläubigen oder derer, durch die sie unmittelbar gewählt werden, beherrschen zu lassen. Sie müssen in Gebetshaltung den Befehlen und Eingebungen ihres Gewissens folgen. Sie dürfen, ja müssen sich mit den in der Gemeinde herrschenden Zuständen vertraut machen, müssen in ihrem Geiste leidenschaftslos die wesentlichen Gesichtspunkte an jedem Fall, der ihnen zur Beratung vorgelegt wird, abwägen, sich aber das Recht der freien Entscheidung vorbehalten. »Gott wird ihnen wahrlich eingeben, was immer Er will«, ist Bahá'u'lláhs unbestreitbare Versicherung. Damit sind sie, und nicht die Gesamtheit ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Wähler, zu Empfängern der göttlichen Führung gemacht, die für diese Offenbarung Herzblut und eigentlicher Schutz zugleich ist. Hinzu kommt, daß er, der in dieser Offenbarung das Erbprinzip versinnbildlicht, zum Ausleger der Worte ihres Urhebers gesetzt ist und damit kraft eben dieser ihm verliehenen Autorität aufhört, die Zentralgestalt zu sein, die unwandelbar mit den herrschenden Systemen der verfassungsmäßigen Monarchien verbunden ist.

#221

Die Bahá'í-Verwaltungsordnung kann auch keineswegs als ein schweres, starres System übersteigerter Autokratie oder als leere Nachahmung irgendeiner Form absolutistischer Kirchenherrschaft, sei es des Papsttums, des Imamats oder irgendeiner ähnlichen Einrichtung abgetan werden, und zwar aus dem einleuchtenden Grund, daß das Recht zur Gesetzgebung hinsichtlich aller Gegenstände, die nicht ausdrücklich in den Bahá'í-Schriften offenbart sind, ausschließlich den international gewählten Vertretern der Anhänger Bahá'u'lláhs verliehen ist. Weder der Hüter des Glaubens noch irgendeine Institution außerhalb des Internationalen Hauses der Gerechtigkeit kann je diese wichtige, wesentliche Gewalt an sich reißen oder dieses heilige Recht mißbrauchen. Die Aufhebung des berufsmäßigen Priestertums und der damit verbundenen Sakramente der Taufe, des Abendmahls und der Beichte, die Gesetze, welche die Einsetzung aller örtlichen, nationalen und internationalen Häuser der Gerechtigkeit durch allgemeine Wahl erfordern, das vollkommene Fehlen bischöflicher Autorität mit den sie begleitenden Privilegien, Entstellungen und verbeamtenden Tendenzen sind weitere Beweise für den nichtautokratischen Charakter der Bahá'í Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung und ihre Neigung zu demokratischen Methoden in der Verwaltung ihrer Angelegenheiten.

Diese mit dem Namen Bahá'u'lláhs gleichbedeutende Ordnung darf auch angesichts der Tatsache, daß sie einerseits den Erbgrundsatz wahrt und den Hüter des Glaubens mit der Pflicht zur Auslegung seiner Lehren betraut, andererseits die ihr oberstes gesetzgebendes Organ darstellende Körperschaft in freier und direkter Wahl aus der Menge der Gläubigen hervorgehen läßt, nicht mit irgendeiner rein aristokratischen Herrschaftsform vermengt werden.

#222

Während man von dieser Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung nicht sagen kann, daß sie irgendeinem der anerkannten Herrschaftssysteme nachgebildet sei, verkörpert, versöhnt und vereint sie doch in sich solche gesunden Bestandteile, wie wir sie in jedem einzelnen von ihnen finden können. Die erbliche Amtsgewalt, die der Hüter auszuüben berufen ist, die dem Universalen Haus der Gerechtigkeit obliegenden lebenswichtigen, wesentlichen Funktionen, die besonderen, seine demokratische Wahl durch die Vertreter der Gläubigen verlangenden Anordnungen, das alles verbindet sich miteinander, um die Wahrheit darzutun: daß diese göttlich offenbarte Ordnung, die mit keiner der von Aristoteles in seinen Werken beschriebenen Herrschaftsformen übereinstimmt, in ihren geistigen Grundwahrheiten die in jeder einzelnen von ihnen zu findenden wohltätigen Bestandteile verkörpert und verschmelzt.

Da in ihr die anerkanntermaßen jedem der genannten Systeme innewohnenden übel streng und dauerhaft ausgeschlossen sind, kann diese einzigartige Ordnung, wie lange sie auch währen und wie weit sie sich auch verzweigen mag, doch niemals zu irgendeiner Form von Despotismus, Oligarchie oder Demagogie entarten, die früher oder später das Laufwerk aller menschengeschaffenen und im Wesen mängelbehafteten politischen Einrichtungen verderben müssen.

Geliebte Freunde! Wie bedeutsam der Ursprung dieses mächtigen Verwaltungsbaues, wie einzigartig seine Merkmale auch sind, erscheinen doch die Ereignisse, von denen man sagen kann, daß sie sein Entstehen angekündigt und den ersten Abschnitt seiner Entwicklung ausgezeichnet haben, nicht weniger bemerkenswert. Wie auffallend, wie lehrreich ist der Gegensatz zwischen dem Vorgang allmählicher und stetiger Befestigung, der das Wachstum seiner jungen Kraft bezeichnet, und dem verheerenden Ansturm der auflösenden Mächte, welche die veralteten religiösen und weltlichen Einrichtungen der heutigen Gesellschaft überrennen!

#223

Die Lebenskraft, welche die organischen Institutionen dieser großen, sich ständig ausbreitenden Ordnung in so hohem Maße zeigen, die Hindernisse, die bereits durch den hohen Mut und die kühne Entschlossenheit ihrer Sachwalter überwunden sind, das Feuer einer mit unverminderter Glut in den Herzen ihrer Reiselehrer flammenden unauslöschlichen Begeisterung, die Höhen der Selbstaufopferung, die ihre Vorkämpfer erklimmen, die Weite des Blicks, die zuversichtliche Hoffnung, die schöpferische Freude, der innere Friede, die unbestechliche Lauterkeit, die vorbildliche Selbstzucht, die unauflösliche Einheit und Solidarität, die ihre mutigen Verfechter an den Tag legen, der Grad, in dem ihr beweglicher Geist sich fähig erwiesen hat, die immer vielfältigeren Elemente in ihren Reihen einander anzugleichen, sie von jeglicher Art von Vorurteil zu reinigen und mit ihrer eigenen Struktur zu verschmelzen, dies sind Beweise einer Macht, die zu übergehen sich eine enttäuschte, bejammernswert erschütterte Gesellschaft schwerlich leisten kann.

Man vergleiche die diesen lebendigen Körper des Glaubens Bahá'u'lláhs beseelenden strahlenden Offenbarungen des Geistes mit den Todesschreien und Todesnöten, den Torheiten und Nichtigkeiten, der Bitternis und den Vorurteilen, der Verderbnis und Gespaltenheit einer siechen, verworrenen Welt! Man erkenne die Angst, die ihre Führer peinigt und ihren blinden, verwirrten Staatsmännern die Tatkraft lähmt! Wie wild ist der Haß, wie falsch der Ehrgeiz, wie kleinlich das Trachten, wie tiefgewurzelt das Mißtrauen der Völker, wie beunruhigend die Gesetzlosigkeit, die Bestechlichkeit, der Unglaube, die sich ins Lebensmark einer wankenden Zivilisation hineinfressen!

#224

Muß nicht dieser Vorgang ständig fortschreitender Verschlimmerung, der so viele Bereiche menschlichen Tuns und Denkens tückisch anfällt, als notwendige Gegenbewegung zu diesem Vorgang des Anhebens des allmächtigen Arms Bahá'u'lláhs betrachtet werden? Müssen wir nicht in den folgenschweren Geschehnissen, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre jeden Teil der Erde so tief erschüttert haben, vorbedeutungsvolle Zeichen sehen, die zugleich die Todesqualen einer in Auflösung begriffenen Zivilisation und die Geburtswehen jener Weltordnung, jener Arche menschlichen Heils, verkünden, die sich notwendigerweise auf ihren Trümmern erheben muß?

Der katastrophale Sturz mächtiger König- und Kaiserreiche auf dem europäischen Erdteil, auf den in einigen Fällen Bahá'u'lláhs Prophezeiungen hindeuten, der Niedergang in den Geschicken der shí'itischen Geistlichkeit Seines Geburtslandes, der eingesetzt hat und noch fortwährt, der Sturz der Qájáren-Dynastie, des Erbfeindes Seines Glaubens, der Untergang des Sultanates und des Kalifates, jener tragenden Säulen des sunnitischen Islám, zudem die Zerstörung Jerusalems am Ende des ersten Jahrhunderts christlicher Zeit eine auffallende Parallele bietet, die Woge der Verweltlichung, welche die muhammadanischen Einrichtungen in Ägypten überflutet und daran ist, die Treue ihrer zuverlässigsten Anhänger zu untergraben, die demütigenden Schläge, die einige der mächtigsten Kirchen des Christentums in Rußland, Westeuropa und Mittelamerika getroffen haben, die Verbreitung jener umstürzlerischen Lehren, welche die Grundlagen der scheinbar uneinnehmbaren Festungen im politischen und sozialen Bereich menschlicher Tätigkeiten untergraben und ihr Gebäude umwerfen, die Anzeichen einer bevorstehenden, auffallend an den Verfall des Römischen Reiches im Abendland erinnernden Katastrophe, die das ganze Gefüge der heutigen Zivilisation hinwegzufegen droht, - dies alles zeugt für die Unruhe, mit welcher die Entstehung dieses machtvollen Organs der Religion Bahá'u'lláhs die Welt erfüllt hat, eine Unruhe, die an Ausdehnung und Stärke in dem Maße zunehmen wird, in dem die Tragweite dieser sich ständig mehr entfaltenden Ordnung voll begriffen wird und ihre Verzweigungen sich noch mehr über die Oberfläche des Erdballs breiten.

#225

Noch ein Wort zum Schluß: Aufstieg und Aufbau dieser Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung, der Schale, die eine solche Kostbarkeit birgt und hütet, stellen das Kennzeichen dieses zweiten, des gestaltgebenden Abschnitts des Bahá'í-Zeitalters, dar. In dem Maße, wie dieser Zeitabschnitt vor unseren Blicken zurücktritt, wird er als die Haupttriebkraft angesehen werden, ausgestattet mit der Macht, die letzte Phase der Erfüllung dieser ruhmreichen Sendung einzuleiten.

Niemand möge, solange dieses System noch in seinen Kinderschuhen steckt, seinen Charakter mißverstehen, seine Bedeutung schmälern oder sein Ziel mißdeuten. Der Felsgrund, auf dem diese Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung ruht, ist Gottes unwandelbarer Plan für die Menschheit unserer Zeit. Der Quell, aus dem sie ihre Eingebung empfängt, ist kein Geringerer als Bahá'u'lláh selbst. Schild und Schirm ist ihr die Menge der Heerscharen des Reiches Abhá. Ihre Saat ist das Blut von nicht weniger als zwanzigtausend Märtyrern, die ihr Leben opferten, damit sie wachse und gedeihe. Die Achse, um die sich ihre Institutionen drehen, sind die authentischen Vorkehrungen des Willens und Testaments 'Abdu'l-Bahás. Ihre Leitsätze sind die Wahrheiten, die Er, der unfehlbare Ausleger der Lehren unseres Glaubens, so deutlich in Seinen öffentlichen Ansprachen im Abendland verkündet hat. Die Gesetze, die ihre Tätigkeit beherrschen und ihren Aufgabenkreis umgrenzen, sind jene, die ausdrücklich im Kitáb-i-Aqdas verordnet sind. Die Stätte, an der sich ihre geistigen, menschendienlichen und amtlichen Unternehmungen bündeln, sind der Mashriqu'l-Adhkár und seine Nebeneinrichtungen. Die Säulen, die ihre Amtsgewalt tragen und ihr Gefüge stützen, sind die Zwillingsinstitutionen des Hütertums und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Das Hauptziel, der allem zugrundeliegende Zweck, der sie beseelt, ist der Aufbau der neuen Weltordnung, wie Bahá'u'lláh sie entworfen hat. Die Methoden, die sie anwendet, die Maßstäbe, die sie anlegt, neigen weder zum Osten noch zum Westen, weder zu den Juden noch zu den Heiden, weder zu den Reichen noch zu den Armen, weder zu den Weißen noch zu den Farbigen. Ihr Losungswort ist die Vereinigung des Menschengeschlechts, ihr Banner der »Größte Friede«, ihre Vollendung der Anbruch jenes Goldenen Zeitalters, des Tages, da die Reiche dieser Welt zum Reiche Gottes, welches das Reich Bahá'u'lláhs ist, geworden sind.

Shoghi

Haifa, Palästina 8. Februar 1934


#229
7
Die Entfaltung der Weltkultur

An die Geliebten Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen überall im Westen

+7:1
Freunde und Miterben der Gnade Bahá'u'lláhs!

Als Ihr Teilhaber am Aufbau der Neuen Weltordnung, die der Geist Bahá'u'lláhs erschaut und deren Wesenszüge die Feder 'Abdu'l-Bahás, ihres vollendeten Baumeisters, gezeichnet hat, halte ich inne, um mit Ihnen die Szene zu betrachten, die sich nach Ablauf von fast fünfzehn Jahren seit 'Abdu'l-Bahás Hinscheiden vor uns ausbreitet.

Ebenso deutlich wie fesselnd ist der Gegensatz zwischen den sich häufenden Beweisen stetiger Festigung, wie sie den Aufschwung der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung des Gottesglaubens begleiten, und den Kräften der Zersetzung, die gegen das Gefüge einer in Geburtswehen liegenden Gesellschaft anprallen. Innerhalb wie außerhalb der Bahá'í-Welt mehren, ja vervielfachen sich Tag für Tag die Zeichen und Merkmale, die in geheimnisvoller Weise die Geburt jener Weltordnung ankünden, deren Errichtung das Goldene Zeitalter der Sache Gottes auszeichnen muß. Kein unparteiischer Betrachter kann sie länger übersehen. Ein solcher läßt sich weder durch die schmerzhafte Trägheit täuschen, mit der sich die Kultur, die zu begründen die Anhänger Bahá'u'lláhs sich mühen, entfaltet, noch läßt er sich durch die kurzlebigen Äußerungen wiedergekehrten Wohlstandes verleiten, die zuweilen in der Lage scheinen, dem zerstörerischen Einfluß chronischer Übel auf die Institutionen eines niedergehenden Zeitalters Einhalt zu bieten. Zu zahlreich, zu zwingend sind die Zeichen der Zeit, als daß sie ihm verstatteten, ihre Wesensart mißzuverstehen oder ihre Bedeutung zu unterschätzen. Wenn der Beobachter gerecht in seinem Urteil bleiben will, kann er in der Kette von Ereignissen, die einerseits vom unaufhaltsamen Vormarsch jener Institutionen künden, welche unmittelbar mit der Offenbarung Bahá'u'lláhs verknüpft sind, andererseits den Niedergang jener Mächte und Fürstlichkeiten anzeigen, die diese Offenbarung entweder nicht beachtet oder sich ihr entgegengestellt haben, Beweise für das Wirken des alldurchdringenden Willens Gottes, für die Gestaltung Seines vortrefflich geordneten, weltumspannenden Planes erkennen.

#230

»Bald«, so verkünden es Bahá'u'lláhs eigene Worte, »wird die Ordnung des heutigen Tages aufgerollt und eine neue an ihrer Statt verbreitet werden. Wahrlich, dein Herr spricht die Wahrheit, und Er weiß um das Ungeschaute.« »Bei Meinem Selbst!« erklärt Er feierlich, »der Tag naht, da Wir die Welt und alles, was darinnen ist, aufgerollt und eine neue Ordnung am ihrer Statt verbreitet haben werden. Er ist, wahrlich, mächtig über alle Dinge.« »Die Welt«, erläutert Er, »ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser größten, dieser neuen Weltordnung. Das geregelte Leben der Menschheit ist aufgewühlt durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems, desgleichen kein sterblich es Auge je gesehen hat.« »Die Zeichen drohender Erschütterungen und des Chaos«, so warnt Er die Völker der Welt, »sind jetzt deutlich zu sehen, zumal die herrschende Ordnung erbärmlich mangelhaft erscheint.«

#231

Innig geliebte Freunde! Diese neue Weltordnung, deren Verheißung in der Offenbarung Bahá'u'lláhs verankert ist, deren Hauptgrundsätze in den Schriften des Mittelpunktes Seines Bündnisses aufgestellt sind, bringt nicht weniger als die völlige Einigung des ganzen Menschengeschlechts mit sich. Diese Einigung muß sich nach solchen Grundsätzen richten, wie sie unmittelbar mit dem Geist übereinstimmen, der jene Institutionen beseelt, welche die Grundstruktur der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung Seines Glaubens bilden, ebenso mit den Gesetzen, welche die Tätigkeit dieser Institutionen steuern.

Kein Apparat, der hinter dem Maßstab der Bahá'í-Offenbarung zurückbleibt und dem erhabenen Modell der Lehren Bahá'u'lláhs widerspricht, sei er durch die vereinten Bemühungen der Menschheit auch noch so gut ausgeklügelt, kann je hoffen, irgend etwas über jenen »Geringeren Frieden« hinaus zu vollbringen, auf den der Begründer unseres Glaubens in Seinen Schriften selbst angespielt hat. »Jetzt, da ihr den Größten Frieden abgelehnt habt«, schrieb Er zur Ermahnung der Könige und Herrscher der Erde, »haltet euch an diesen, den Geringeren Frieden, damit ihr eure eigene Lage und die eurer Untertanen einigermaßen bessern möget.« Im selben Sendschreiben spricht Er eingehender über diesen Geringeren Frieden und wendet sich wie folgt an die Herrscher der Erde: »Versöhnt euch, so daß ihr nicht mehr Kriegsrüstungen brauchet, als in dem Maße, um eure Länder und Herrschaften zu schützen ... Seid vereinigt, o Könige der Erde, denn dadurch wird der Sturm der Zwietracht unter euch gestillt, und eure Völker werden Ruhe finden - so ihr zu denen gehöret, die verständig sind. Sollte einer von euch die Waffen gegen einen anderen ergreifen, so erhebt euch alle gegen ihn; denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.«

#232

Der Größte Friede andererseits, wie ihn Bahá'u'lláh versteht - ein Friede, der sich unausweichlich als praktische Folge aus der Vergeistigung der Welt und der Verschmelzung aller ihrer Rassen, Bekenntnisse, Klassen und Nationen ergibt -, kann auf keine andere Grundlage gestellt und durch keine andere Wirkkraft bewahrt werden als die gottgegebenen Satzungen, die in der mit Seinem heiligen Namen verbundenen Weltordnung inbegriffen sind, in Seinem vor fast siebzig Jahren der Königin Victoria offenbarten Sendschreiben erklärt Bahá'u'lláh, auf diesen Größten Frieden anspielend: »Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt verordnet hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Dies kann auf keine andere Weise erreicht werden als durch die Macht eines befähigten, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, dies ist die Wahrheit, und alles andere ist nichts als Irrtum... Denke nach über diese Tage, in denen die Altehrwürdige Schönheit, Er, welcher der Größte Name ist, herniedergesandt ward, die Menschheit wiederzubeleben und zu vereinen. Sieh, wie sie sich mit gezückten Schwertern gegen Ihn erhoben und begingen, was den Geist des Glaubens zittern ließ. Und wann immer Wir ihnen sagten: 'Sehet, der Welterneuerer ist gekommen', erwiderten sie: 'Er ist wahrlich der Unheilstifter einer.'« »Es geziemt allen Menschen an diesem Tag«, versichert Er in einem anderen Sendschreiben, »sich fest an den Größten Namen zu halten und die Einheit der ganzen Menschheit aufzurichten. Es gibt keine Stätte, wohin einer fliehen kann, keine Zuflucht, die jemand suchen kann außer Ihm.«

+7:2 #233
Die Menschheit wird mündig

Die Offenbarung Bahá'u'lláhs, deren höchstes Ziel es ist, diese organische, geistige Einheit aller Nationen in ihrer Gesamtheit zu vollenden, muß, wenn wir zu ihren selbstverständlichen Folgerungen stehen, als Signal für den Eintritt des gesamten Menschengeschlechts in den Zustand der Mündigkeit betrachtet werden. Sie darf nicht nur als eine weitere geistige Erneuerung in den allzeit wechselnden Geschicken der Menschheit angesehen werden, nicht nur als ein weiteres Glied in einer Kette fortschreitender Offenbarungen, selbst nicht nur als der Gipfelpunkt in einer Stufenfolge wiederholter prophetischer Zyklen. Vielmehr bezeichnet die Offenbarung Bahá'u'lláhs die letzte, höchste Stufe in der atemberaubenden Entwicklung des menschlichen Gesellschaftslebens auf diesem Planeten. Das Hervortreten einer Weltgemeinschaft, das Bewußtsein des Weltbürgertums, die Begründung einer Weltzivilisation und Weltkultur - Strukturen, die allesamt mit den Anfangsstadien in der Entfaltung des Goldenen Zeitalters der Bahá'í-Ära zusammenfallen müssen - sollten ihrer wahren Natur nach, was dieses planetarische Leben anbelangt, als die äußersten Grenzen für die Organisation der menschlichen Gesellschaft angesehen werden, wenngleich der Mensch als Einzelwesen im Ergebnis dieser Vollendung unbegrenzt weiter fortschreiten, sich weiter entwickeln wird und muß.

Die geheimnisvolle, allesdurchdringende und doch letztlich unbestimmbare Wandlung, die wir im Leben des Einzelwesens und in der Entwicklung der Frucht als Reifezustand bezeichnen, muß, wenn wir Bahá'u'lláhs Äußerungen richtig begreifen, in der organisatorischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ihr Gegenstück haben. Früher oder später muß ein ähnlicher Reifezustand im Gemeinschaftsleben der Menschheit eintreten, ein noch eindrucksvolleres Erscheinungsbild in den weltweiten Verhältnissen hervorbringen und das ganze Menschengeschlecht mit solchen Möglichkeiten der Wohlfahrt ausstatten, wie sie während der nachfolgenden Zeitalter den für die letztliche Erfüllung ihrer hohen Bestimmung notwendigen Antrieb bilden. Ein solcher Reifezustand im Ablauf menschlicher Regierungsgeschäfte muß, wenn wir den herausfordernden Anspruch Bahá'u'lláhs richtig erkennen, für alle Zeiten mit der Offenbarung, deren Träger Er war, gleichgesetzt werden.

#234

An einer besonders charakteristischen Stelle Seines Offenbarungswerkes bezeugt Er in unmißverständlicher Sprache die Wahrheit dieses hervorstechenden Grundzuges im Bahá'í-Glauben: »Es ist von Uns verordnet worden, daß das Wort Gottes und alle seine Möglichkeiten in genauer Übereinstimmung mit solchen Verhältnissen offenbart werden sollen, wie sie von Ihm, dem Allwissenden, dem Allweisen, vorherbestimmt worden sind ... Würde es zugelassen, daß das Wort plötzlich alle ihm innewohnenden Kräfte entfesselt, könnte kein Mensch die Wucht einer so mächtigen Offenbarung ertragen ... Erwäge, was Muhammad, dem Gesandten Gottes, herabgesandt worden ist. Das Maß der Offenbarung, deren Träger Er war, ist zuvor von Ihm, dem Allmächtigen, dem Allmachtvollen, deutlich bestimmt worden. Jene, die Ihn hörten, konnten jedoch Seine Absicht nur bis zu dem Grade ihrer Stufe und geistigen Aufnahmefähigkeit begreifen. So entschleierte Er das Antlitz der Weisheit nach Maßgabe ihrer Fähigkeit, die Last Seiner Botschaft zu tragen. Kaum aber hatte die Menschheit die Stufe der Reife erreicht, da enthüllte das Wort vor den Augen der Menschen die verborgenen Energien, mit denen es ausgestattet ist - Energien, die sich in der Fülle ihrer Herrlichkeit offenbarten, als im Jahre sechzig (1844 n.Chr.) die Altehrwürdige Schönheit in der Person 'Alí-Muhammads, des Báb, erschien.«

#235

'Abdu'l-Bahá erläutert diese Grundwahrheit und schreibt: »Alles Erschaffene hat seinen Grad oder seine Stufe der Reife. Der Reifezustand im Leben eines Baumes ist die Zeit, da er Früchte trägt ... Das Tier erreicht eine Stufe des vollen Wachstums und der Vollständigkeit, und im Menschenreich gelangt der Mensch zur Reife, wenn das Licht seines Verstandes die höchste Macht und Entwicklung erreicht ... Ähnlich gibt es Abschnitte und Stufen im Gesellschaftsleben der Menschheit. Einmal durchwanderte sie ihre Kindheit, späterhin ihre Jugendzeit, aber jetzt ist sie in ihre lange verheißene Reifezeit eingetreten, deren Beweise überall offenkundig sind ... Was den menschlichen Bedürfnissen in der Frühgeschichte unseres Geschlechts angemessen war, ist weder passend noch genügend für die Erfordernisse des heutigen Tages, dieser Zeit des Neuen und der Vollendung. Die Menschheit hat sich aus ihrem früheren Zustand der Begrenztheit und der Vorerziehung erhoben. Jetzt muß der Mensch mit neuen Tugenden und Kräften, mit neuen sittlichen Maßstäben, mit neuen Fähigkeiten erfüllt werden. Neue Wohltaten, vollkommene Gaben, warten auf ihn und senken sich schon auf ihn herab. Die Gaben und Segnungen der Jugendzeit, wenngleich sie während des Heranwachsens der Menschheit paßten und genügten, sind nunmehr außerstande, den Erfordernissen ihrer Reifezeit zu entsprechen.«

+7:3 #236
Der Vorgang der Einswerdung

Eine derart einmalige, bedeutsame Krise im Leben der organisierten Menschheit kann überdies mit dem Höhepunkt in der politischen Entwicklung der großen amerikanischen Republik verglichen werden - einem Stadium, das durch die Bildung einer vereinten Gemeinschaft verbundener Staaten gekennzeichnet war. Ein neues Nationalbewußtsein regte sich, ein neuer Kulturtypus war geboren, unendlich reicher und edler als irgendeiner, den die völkischen Bestandteile dieser neuen Nation, jeder für sich, hätten zu erreichen hoffen können. Auf solche Weise, kann man sagen, ist die Mündigkeit des amerikanischen Volkes verkündet worden. innerhalb der gebietsmäßigen Grenzen dieser Nation ist jene Vollendung als der Höhepunkt in der Entwicklung menschlicher Regierung zu betrachten. Die mannigfachen, nur lose verbundenen Teile einer getrennten Gemeinschaft wurden zusammengebracht, vereint und zu einem ganzheitlichen System verschmolzen. Auch wenn diese Ganzheit weiter wachsende innere Anziehungskraft gewinnen kann, auch wenn die vollzogene Einheit weiter gefestigt werden mag, auch wenn die Kultur, die nur aus dieser Einheit geboren werden konnte, sich ausbreiten und blühen mag, läßt sich doch sagen, daß der für diese Entfaltung lebenswichtige Apparat damals aufgebaut und der für ihre Steuerung und Erhaltung notwendige Anstoß damals vermittelt worden ist. Über diese Vollendung der nationalen Einheit hinaus ist in den geographischen Grenzen jener Nation keine weitere Entwicklungsstufe vorstellbar, wenngleich die höchste Bestimmung ihres Volkes als Bestandteil einer noch größeren, die ganze Menschheit umfassenden Ganzheit noch unerfüllt bleibt. Betrachtet man jene Nation als gesonderte Einheit, dann läßt sich sagen, daß dieser Vorgang der Einswerdung seine höchste, endgültige Vollendung erreicht hat.

#237

Das ist auch die Stufe, der sich eine in der Entwicklung befindliche Menschheit gemeinsam nähert. Die Offenbarung, die der Allmächtige Gebieter Bahá'u'lláh anvertraut hat, ist nach dem festen Glauben Seiner Anhänger mit Möglichkeiten ausgestattet, wie sie der Reife des Menschengeschlechts, der krönenden, folgenschwersten Etappe zwischen seiner Kindheit und seiner Mannhaftigkeit, angemessen sind.

Die aufeinanderfolgenden Begründer aller vergangenen Religionen, die seit unvordenklichen Zeiten mit wachsender Stärke den Glanz einer gemeinsamen Offenbarung auf die verschiedenen Stufen des Fortschritts der Menschheit zu ihrer Reife hin ergossen haben, mögen daher in gewissem Sinn als vorläufige Manifestationen Gottes, als Vorboten und Wegbereiter für das Kommen jenes Tages der Tage betrachtet werden, da die ganze Erde Frucht tragen und der Baum der Menschheit seine vorbestimmte Ernte bringen wird.

So unbestreitbar diese Wahrheit ist, darf ihr herausfordernder Charakter doch nie die Absicht verdunkeln oder den Grundsatz verdrehen, der allen Äußerungen Bahá'u'lláhs zugrunde liegt, Äußerungen, die für alle Zeiten die völlige Einheit aller Propheten Gottes, Ihn selbst einbegriffen, in der Vergangenheit wie in der Zukunft, begründen. Obwohl die Sendung der Bahá'u'lláh vorangegangenen Propheten in dem erwähnten Lichte gesehen werden kann, obwohl das jedem von ihnen anvertraute Maß göttlicher Offenbarung im Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses notwendig unterschiedlich ist, dürfen ihr gemeinsamer Ursprung, ihre Wesenseinheit, ihre gleiche Absicht zu keiner Zeit und unter keinen Umständen mißverstanden oder geleugnet werden. Daß alle Gottgesandten so zu sehen sind, daß sie »im gleichen Heiligtum wohnen, im gleichen Himmel schweben, auf dem gleichen Throne sitzen, die gleiche Rede führen und den gleichen Glauben verkünden«, muß die unabänderliche Grundlage, der Hauptlehrsatz des Bahá'í-Glaubens bleiben, wie sehr wir auch das Maß göttlicher Offenbarung preisen, das der Menschheit auf dieser krönenden Stufe ihrer Entwicklung gewährt worden ist. Unterschiede in dem Strahlenglanz, den jede dieser Manifestationen des göttlichen Lichtes über die Welt ergossen hat, sollten nicht einer innewohnenden Überlegenheit zugeschrieben werden, mit der die eine oder andere von ihnen wesenhaft ausgestattet worden wäre, sondern vielmehr der fortschreitenden Fassungskraft, der stetig wachsenden geistigen Empfänglichkeit, die das Menschengeschlecht auf seinem Fortschritt zur Reife unabänderlich an den Tag gelegt hat.

+7:4 #238
Die letzte Vollendung

Nur wer willens ist, die Offenbarung Bahá'u'lláhs mit der Vollendung einer so gewaltigen Entwicklung im Gemeinschaftsleben des ganzen Menschengeschlechts in Verbindung zu bringen, kann die Bedeutung jener Worte begreifen, die Er als passend für eine Anspielung auf die Herrlichkeit dieses verheißenen Tages und auf die Dauer des Bahá'í-Zeitalters erachtet hat. »Dies ist der König der Tage«, ruft Er aus, »der Tag, welcher den Heißgeliebten hat kommen sehen, Ihn, nach dem die Sehnsucht der Welt seit aller Ewigkeit gegangen.« »Die Heiligen Schriften früherer Sendungen«, versichert Er weiter, »feiern das große Jubelfest, das diesen größten Tag Gottes begrüßen muß. Wohl steht es um den, der diesen Tag erlebt und schaut und seine Stufe erkennt.« »Es ist klar«, erläutert Er an anderer Stelle, »daß jedes Zeitalter, in dem eine Manifestation Gottes gelebt hat, göttlich verordnet ist und in gewissem Sinn als Gottes festgesetzter Tag bezeichnet werden kann. Dieser Tag jedoch ist einzigartig und muß von den vorausgegangenen unterschieden werden. Die Bezeichnung 'Siegel der Propheten' enthüllt seine hohe Stufe völlig. Der prophetische Zyklus ist wahrlich beendet. Er, der die Ewige Wahrheit ist, ist jetzt gekommen. Er hat das Banner der Macht gehißt und ergießt nunmehr auf die Welt den unumwölkten Glanz Seiner Offenbarung.« »In dieser mächtigsten Offenbarung«, erklärt Er in kategorischer Sprache, »haben alle Sendungen der Vergangenheit ihre höchste, ihre letzte Vollendung erlangt. Was in dieser überragenden, dieser erhabensten Offenbarung kundgemacht worden ist, steht ohne Beispiel in den Annalen der Vergangenheit da, noch werden künftige Zeitalter Gleichartiges schauen.«

#239

'Abdu'l-Bahás verbürgte Erklärungen sollten gleichfalls ins Gedächtnis gerufen werden, da sie nicht weniger nachdrücklich die beispiellose Unermeßlichkeit der Sendung Bahá'u'lláhs bestätigen. »Jahrhunderte«, bekräftigt Er in einem Seiner Sendschreiben, »nein, ungezählte Zeitalter müssen vergehen, ehe das Tagesgestirn der Wahrheit wieder in seiner hochsommerlichen Pracht erstrahlt oder aufs neue im Glanze frühlingsfrischer Herrlichkeit scheint ... Allein die innere Schau der Sendung, die von der Gesegneten Schönheit eingeleitet wurde, konnte genügen, die Heiligen vergangener Zeitalter zu verzücken - Heilige, die sich danach sehnten, auch nur für einen Augenblick an seiner großen Herrlichkeit teilzuhaben.« »Was jene Manifestationen angeht, die zukünftig 'in den Schatten der Wolken' herniederkommen werden«, bestätigt Er in noch deutlicherer Sprache, »so wisse wahrlich, daß sie in ihrer Beziehung zur Quelle ihrer Eingebung unter dem Schatten der Altehrwürdigen Schönheit stehen. Jedoch in ihrer Beziehung zu dem Zeitalter, in dem sie erscheinen, tut jeder von ihnen, 'was immer Er will.'« »Diese heilige Sendung«, erläutert Er mit Blick auf die Offenbarung Bahá'u'lláhs»,ist vom Lichte der Sonne der Wahrheit erleuchtet, wie sie von ihrer erhabensten Stufe, in der Fülle ihres Glanzes, ihrer Glut und ihrer Herrlichkeit strahlt.«

+7:5 #240
Todesqualen und Geburtswehen

Innig geliebte Freunde! Obgleich die Offenbarung Bahá'u'lláhs geschehen ist, ist doch die Weltordnung, die eine solche Offenbarung zeugen muß, noch ungeboren. Obgleich das heroische Zeitalter Seines Glaubens vergangen ist, sind die schöpferischen Kräfte, die jenes Zeitalter entfesselt hat, noch nicht in derjenigen Weltgesellschaft auskristallisiert, die in der Fülle der Zeit den Glanz Seiner Herrlichkeit widerspiegeln soll. Obgleich das Rahmenwerk Seiner Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung errichtet ist, obgleich der gestaltgebende Abschnitt des Bahá'í-Zeitalters begonnen hat, ist doch das verheißene Reich Gottes, zu dem die Saat Seiner Institutionen heranreift, noch nicht ausgerufen. Obgleich Er Seine Stimme erhoben hat, obgleich die Zeichen Seines Glaubens in nicht weniger als vierzig Ländern des Ostens wie des Westens aufgerichtet worden sind, ist doch die Ganzheit des Menschengeschlechts noch nicht anerkannt, seine Einheit noch nicht verkündet, das Banner des Größten Friedens noch nicht gehißt.

»Die Höhen«, bezeugt Bahá'u'lláh selbst, »die durch Gottes huldvollste Gnade der sterbliche Mensch an diesem Tag erreichen kann, sind seinem Blick bis jetzt verborgen. Noch nie hat die Welt des Seins die Fassungskraft für eine solche Offenbarung besessen und besitzt sie auch heute nicht. Der Tag naht jedoch heran, da die Möglichkeiten einer so großen Gunst kraft Seines Geheißes den Menschen offenbart werden.«

#241

Für die Offenbarung einer so großen Gunst scheint eine Übergangszeit schlimmer Unruhen und weitverbreiteter Leiden unausweichlich. So glänzend das Zeitalter war, das den Beginn der Bahá'u'lláh anvertrauten Sendung miterlebte, wird doch in wachsendem Maße offenkundig, darf die Zeitspanne, die zu verstreichen hat, ehe jenes Zeitalter seine köstlichste Frucht trägt, von sittlicher und gesellschaftspolitischer Finsternis überschattet sein muß, weil nur so eine unbußfertige Menschheit auf das reiche Erbe vorbereitet wird, das sie antreten soll.

In eine solche Übergangszeit gleiten wir jetzt stetig und unwiderstehlich hinein. Inmitten der Schatten, die sich immer dichter um uns scharen, können wir am Horizont der Weltgeschichte schwach den ersten Schimmer von Bahá'u'lláhs überirdischer Herrschaft erkennen. Uns fällt als »Generation des Zwielichts«, deren Lebenstage als die Brutzeit des von Bahá'u'lláh vorhergeschauten Weltgemeinwesens bezeichnet werden können, eine Aufgabe zu, deren hohes Vorrecht wir niemals hinreichend würdigen können und deren Mühsal wir bis jetzt erst in Umrissen wahrnehmen. Berufen, das Wirken dunkler Mächte, welche eine Flut lähmender Heimsuchungen auszulösen bestimmt sind, am eigenen Leibe zu erfahren, können wir wohl glauben, daß die finsterste Stunde, die dem Anbruch des Goldenen Zeitalters unseres Glaubens vorangehen muß, noch nicht geschlagen hat. So undurchdringlich das Düster ist, das die Welt bereits umgibt, ist doch das Gottesgericht, das diese Welt erwartet, erst in Vorbereitung, und keiner kann sich bereits vorstellen, wie finster es werden wird. Wir stehen an der Schwelle eines Zeitalters, dessen Zuckungen zugleich die Todesqualen der alten Ordnung und die Geburtswehen der neuen künden. Durch den zeugenden Einfluß des von Bahá'u'lláh gestifteten Glaubens ist, so kann man sagen, diese neue Weltordnung empfangen worden. Wir können gegenwärtig ihre Bewegungen im Mutterleib eines kreißenden Zeitalters wahrnehmen - eines Zeitalters, das auf die festgesetzte Stunde wartet, in der es seine Last abwerfen und seine schönste Frucht erbringen kann.

#242

»Die ganze Erde«, schreibt Bahá'u'lláh, »ist jetzt in einem Zustand der Trächtigkeit. Der Tag naht heran, da sie ihre edelsten Früchte zeitigt, da ihr die stattlichsten Bäume, die köstlichsten Blüten, die himmlischsten Segnungen entsprießen. Unermeßlich erhaben ist der Hauch, der dem Gewande deines Herrn, des Gepriesenen, entströmt. Denn siehe, Sein Duft ist verbreitet und macht alle Dinge neu. Wohl dem, der begreift.« »Die brausenden Winde der göttlichen Gnade«, verkündet Er in der Súratu'l-Haykal, »sind über alle Dinge gekommen. Jedes Geschöpf ist mit all den Möglichkeiten, die es tragen kann, ausgestattet worden. Und doch haben die Völker der Welt diese Gnade abgelehnt! Jeder Baum ist mit den erlesensten Früchten begabt, jedes Meer mit den leuchtendsten Edelsteinen bereichert worden. Der Mensch selbst wurde mit den Gaben des Verständnisses und der Erkenntnis belehnt. Die ganze Schöpfung ist zur Empfängerin geworden für die Offenbarung des Allbarmherzigen, und die Erde zur Schatzkammer für solche Dinge, die unerforschlich sind für alle außer Gott, der Wahrheit, dem Wissenden um das Ungeschaute. Die Zeit naht, da alles Erschaffene seine Last abwirft. Verherrlicht sei Gott, der Verleiher dieser Gnade, die alles umfaßt, das Sichtbare wie das Unsichtbare!«

»Als der Ruf Gottes erhoben ward«, so hat 'Abdu'l-Bahá geschrieben, »hauchte er dem Körper der Menschheit neues Leben ein und goß einen neuen Geist in die ganze Schöpfung. Aus diesem Grunde ist die Welt bis in ihre Tiefen bewegt, Herz und Gewissen der Menschen sind erfrischt. Binnen kurzem werden die Zeichen dieser Wiedergeburt offenbar, die tief Schlafenden werden erweckt.«

+7:6 #243
Umfassende Gärung

Wenn wir die Welt um uns betrachten, können wir nicht umhin, die mannigfachen Beweise der umfassenden Gärung wahrzunehmen, welche die Menschheit in jedem Teil des Erdballs und auf jedem Gebiet des menschlichen Lebens im Vorgefühl des Tages, an dem die Ganzheit des Menschengeschlechts anerkannt und ihre Einheit begründet sein wird, läutert und neu gestaltet. Ein zweifacher Vorgang läßt sich hier jedoch unterscheiden, wobei jeder dieser beiden Prozesse auf seine eigene Weise und mit wachsender Schwungkraft darauf angelegt ist, jene Mächte, die das Antlitz unseres Planeten umgestalten, zum Höhepunkt zu führen. Der erste Vorgang ist dem Wesen nach ein Integrationsprozeß, während der zweite von Grund auf zersetzend ist. Im Zuge seiner stetigen Entwicklung entfaltet der erste Prozeß ein System, das recht wohl als Modell jenes Weltgemeinwesens dienen kann, zu dem eine seltsam in Unordnung geratene Welt beständig fortschreitet. Demgegenüber führt der zweite Prozeß in dem Maße, wie sein zersetzender Einfluß sich vertieft, zu einem immer gewaltsameren Niederreißen der veralteten Schranken, die den Fortschritt der Menschheit zu ihrem vorbestimmten Ziel zu hemmen drohen. Der aufbauende Prozeß ist verknüpft mit dem jugendlichen Glauben Bahá'u'lláhs; er ist der Vorbote der neuen Weltordnung, die dieser Glaube bald errichten muß. Die zerstörerischen Mächte, die den anderen Vorgang kennzeichnen, sollten mit einer Zivilisation gleichgesetzt werden, die ihre Antwort auf die Erwartung eines neuen Zeitalters verweigert hat und demzufolge in Chaos und Niedergang verfällt.

#244

Ein titanischer, ein geistiger Kampf, noch nie dagewesen in solchen Ausmaßen und doch unaussprechlich herrlich in seinen letzten Folgen, wird im Ergebnis dieser gegensätzlichen Bestrebungen während der heutigen Übergangszeit, die von der organisierten Gemeinschaft der Anhänger Bahá'u'lláhs und von der Menschheit als Ganzem durchschritten werden muß, geführt.

Der in den Institutionen eines aufsteigenden Glaubens verkörperte Geist stieß auf seinem Vormarsch zur Erlösung der Welt auf Mächte, die ihn bekriegen und größtenteils seine genaue Verneinung sind. Der Fortbestand dieser Mächte muß ihn unausweichlich hindern, sein Ziel zu erreichen. Sinnentleerte, abgetragene Institutionen, veraltende Lehren und Bekenntnisse, abgenutzte, unglaubwürdig gewordene Überlieferungen, wie jene Mächte sie vertreten, sind in gewissen Fällen - und das muß bemerkt werden - infolge ihrer Altersschwäche, ihres Verlusts an innerem Zusammenhalt und der ihnen eigentümlichen Verdorbenheit völlig untergraben. Einzelne dieser Mächte sind von den anstürmenden Gewalten, die der Bahá'í-Glaube zur Stunde seiner Geburt auf so geheimnisvolle Weise entfesselt hat, hinweggefegt worden, Andere sind als unmittelbare Folge eines vergeblichen, schwächlichen Widerstands gegen den Aufstieg dieses Glaubens während der frühen Abschnitte seiner Entwicklung ausgestorben und völlig in Mißkredit geraten. Wieder andere hatten aus Furcht vor dem durchdringenden Einfluß der Institutionen, in denen sich eben jener Geist späterhin verkörpern sollte, alle Kräfte gesammelt und ihren Angriff vorangetragen, nur um nach kurzem, trügerischem Erfolg eine schimpfliche Niederlage zu erleiden.

+7:7 #245
Unsere Zeit des Übergangs

Es ist nicht meine Absicht, die nachfolgenden geistigen Kämpfe in Erinnerung zu rufen oder gar im einzelnen genau zu untersuchen, noch will ich die Siege aufzählen, die dem Glauben Bahá'u'lláhs seit dem Tage seiner Begründung zum Ruhm gereichten. Die Hauptsache sind mir nicht jene Geschehnisse, die das erste, das apostolische Zeitalter der Bahá'í-Sendung ausgezeichnet haben, sondern viel eher die herausragenden Ereignisse und Strömungen, die den gestaltgebenden Abschnitt ihrer Entwicklung, unsere Zeit des Übergangs, kennzeichnen - eine Zeit, deren Trübsale Vorboten sind für jene Ära der Wonne und der Glückseligkeit, die Gottes letztes Ziel für die ganze Menschheit verkörpert.

Auf den katastrophalen Zusammenbruch mächtiger Königtümer und Kaiserreiche am Vorabend des Hinscheidens 'Abdu'l-Bahás, dessen Heimgang als Beginn der Eröffnungsphase unserer Zeit des Übergangs angesprochen werden kann, habe ich in einer früheren Mitteilung kurz angespielt. Die Auflösung des deutschen Kaiserreiches, die demütigende Niederlage, die seinem Herrscher zugefügt wurde, dem Nachfolger und geradlinigen Abkommen jenes preußischen Königs und Kaisers, an den Bahá'u'lláh Seine feierliche, historische Warnung gerichtet hatte, wie auch die Auslöschung der österreichisch-ungarischen Monarchie, Überbleibsel des vormals großen Heiligen Römischen Reiches, wurden beide durch einen Krieg beschleunigt, dessen Ausbruch den Beginn eines Zeitalters der Frustration kennzeichnet, das seinerseits der Errichtung der Weltordnung Bahá'u'lláhs voranzugehen bestimmt ist. Beide bedeutsamen Ereignisse können als die ersten Vorfälle dieses wirren Zeitalters betrachtet werden, und heute treten wir in die Randzonen seines Kernschattens langsam ein.

#246

An den Besieger Napoleons III. richtete der Begründer unseres Glaubens unmittelbar nach des Königs Sieg in Seinem Heiligsten Buche diese klare, bedeutungsschwere Warnung: »O König von Berlin! ... Hüte dich, daß nicht Hochmut dich hindere, den Tagesanbruch göttlicher Offenbarung zu erkennen, daß irdische Begierden dich nicht wie ein Schleier von dem Herrn des Thrones in der Höhe und hienieden auf Erden trennen. Dies rät dir die Feder des Höchsten. Er, wahrlich, ist der Gnädigste, der Allgütige. Denke an den, dessen Macht deine Macht überstieg¹ und dessen Rang deinen Rang übertraf. Wo ist er? Wohin ist entschwunden, was er besaß? Sei gewarnt und gehöre nicht zu denen, die tief schlafen. Er war es, der das Sendschreiben Gottes wegwarf, als Wir ihm kundtaten, was die Scharen der Tyrannei Uns hatten erdulden lassen. Deshalb kam Schande von allen Seiten über ihn, und er fiel in den Staub mit großem Verlust. Denke tief über ihn nach, o König, und über jene, die gleich dir Städte erobert und Menschen beherrscht haben. Der Allbarmherzige brachte sie aus ihren Palästen hinab in ihre Gräber. Sei gewarnt und gehöre zu denen, die nachdenken.«

»O Ufer des Rheins!« prophezeit Bahá'u'lláh an einer anderen Stelle desselben Buches, »Wir haben euch mit Blut bedeckt gesehen, weil die Schwerter der Vergeltung gegen euch gezückt wurden. Und so wird es euch noch einmal ergehen. Und wir hören das Wehklagen Berlins, obwohl es heute in deutlichem Ruhmesglanz steht.«

¹ vorletzter Absatz: Napoleon III

+7:8 #247
Der Zusammenbruch des Islam

Der Machtverfall der shí'itischen Geistlichkeit in einem Lande, das Jahrhundertelang zu den uneinnehmbaren Bollwerken des muslimischen Fanatismus gehört hatte, war die unvermeidliche Folge jener Woge der Verweltlichung, die später auch einige der mächtigsten, konservativsten Kircheneinrichtungen auf dem europäischen wie dem amerikanischen Kontinent durchdringen sollte. Auch wenn sie nicht das unmittelbare Ergebnis des letzten Krieges war, verstärkte diese plötzliche Erschütterung der bislang bewegungslosen Pfeiler Islámischer Orthodoxie die Probleme und vermehrte die Ruhelosigkeit, die eine kriegsmüde Welt quälten. In Bahá'u'lláhs Geburtsland hatte der shí'itische Islám als unmittelbare Folge seiner unerbittlichen Feindseligkeit gegen Bahá'u'lláhs Glauben alle kämpferische Kraft verloren, seine Rechte und Privilegien eingebüßt. Er wurde erniedrigt und sittenverderbt, endgültig zu hoffnungsloser Finsternis und zum schließlichen Erlöschen verurteilt. Nicht weniger als zwanzigtausend Märtyrer mußten jedoch ihr Leben opfern, ehe die Sache, für die sie lebten und starben, diesen ersten Sieg über jene verzeichnen konnte, welche die ersten gewesen waren, deren Ansprüche zu verwerfen und deren tapfere Krieger niederzumähen. »Niedertracht und Elend waren ihnen eingeprägt, und mit Zorn kehrten sie von Gott zurück.«

#248

»Sehet«, bemerkt Bahá'u'lláh zum Niedergang eines gefallenen Volkes, »wie die Sprüche und Taten des Shí'ah-Islám die Freude und den Eifer seiner frühen Tage abgestumpft, wie sie den vormaligen Glanz seines Lichtes getrübt haben. In den ersten Tagen, als sie sich noch an die Regeln hielten, die mit dem Namen ihres Propheten, des Herrn der Menschheit, verbunden sind, da war ihr Lebenslauf gekennzeichnet von einer ununterbrochenen Kette von Siegen und Triumphen. Als sie aber Schritt um Schritt vom Pfade ihres vollkommenen Vorbilds und Meisters abirrten, als sie sich vom Lichte Gottes abkehrten und den Grundsatz Seiner göttlichen Einheit verfälschten, als sie ihr Augenmerk immer mehr und immer ausschließlicher auf jene richteten, die nur Entschleierer waren für die Macht Seines Wortes, da wandelte sich ihre Macht in Ohnmacht, ihr Ruhm in Schande, ihr Mut in Angst. Du selbst bist Zeuge, wie weit es mit ihnen gekommen ist.«

Der Sturz der Qájáren-Dynastie, der anerkannten Verteidigerin und des willigen Werkzeugs einer verrotteten Geistlichkeit, fiel zeitlich fast zusammen mit der Demütigung, welche die shí'itischen Glaubensführer über sich ergehen lassen mußten. Von Muhammad Sháh bis zu dem letzten, schwächlichen Monarchen dieses Herrscherhauses wurde dem Glauben Bahá'u'lláhs die unvoreingenommene Beachtung, die interessenfreie und gerechte Behandlung versagt, die die Sache Bahá'u'lláhs rechtmäßig gefordert hatte, im Gegenteil: Dieser Glaube wurde grausam gequält, fortgesetzt verraten und verfolgt. Das Martyrium des Báb, die Verbannung Bahá'u'lláhs, die Beschlagnahme Seiner weltlichen Besitzungen, Seine Einkerkerung in Mázindarán, die Schreckensherrschaft, welche ihn in das ekelhafteste aller verließe warf, die Ränke, Proteste und Verleumdungen, die ihn dreimal aufs neue verbannten und schließlich zu Seiner Gefangenschaft in der trostlosesten aller Städte führten, die schändlichen Urteilssprüche, die im stillschweigenden Einvernehmen von richterlichen und geistlichen Gewalten gegen Person, Eigentum und Ehre Seiner unschuldigen Anhänger ergingen - dies sind die auffälligsten Schandtaten, für welche die Nachwelt dieses blutbefleckte Herrscherhaus zur Rechenschaft ziehen wird. Ein weiteres Hindernis, das den Vormarsch des Glaubens aufzuhalten versucht hatte, war jetzt beseitigt.

#249

Auch nach der Verbannung Bahá'u'lláhs aus Seinem Vaterland war die Flut der Leiden, die mit solchem Ungestüm über ihm und den Anhängern des Báb zusammengeschlagen war, noch keineswegs abgeebbt. Im Rechtsbereich des Sultáns der Türkei, des Erzfeindes Seiner Sache, war ein neues Kapitel der Geschichte Seiner immer wiederkehrenden Prüfungen eröffnet worden. Der Sturz des Sultanats und Kalifats, der Doppelpfeiler des sunnitischen Islám, kann daher in keinem anderen Lichte denn als unvermeidliche Folge der grimmigen, nachhaltigen, wohlüberlegten Verfolgungen betrachtet werden, welche die Herrscher des wankenden Hauses 'Uthmán, die anerkannten Nachfolger des Propheten Muhammad, der Sache Gottes zuteil werden ließen. Von der Stadt Konstantinopel aus, dem überkommenen Sitz sowohl des Sultanats als auch des Kalifats, hatten die Herrscher der Türkei während einer Zeitspanne von fast drei vierteln eines Jahrhunderts mit unvermindertem Eifer die Flut eines Glaubens, den sie fürchteten und verabscheuten, zu dämmen gesucht. Beginnend mit der Zeit, als Bahá'u'lláh den Fuß auf türkischen Boden setzte, als Er damit im Grunde genommen Gefangener des mächtigsten Potentaten des Islám wurde, bis zum Jahr der Befreiung des Heiligen Landes vom türkischen Joch hatten die aufeinanderfolgenden Kalifen, besonders die Sultáne 'Abdu'l-'Aziz und 'Abdu'l-Hamid, in uneingeschränkter Ausübung der geistlichen wie weltlichen Gewalt, die ihr erhabenes Amt ihnen verlieh, den Begründer unseres Glaubens ebenso wie den Mittelpunkt Seines Bündnisses mit Qualen und Leiden gepeinigt, wie kein Geist sie ergründen und keine Feder oder Zunge sie beschreiben kann. Nur sie selbst konnten solche Pein ermessen und ertragen.

#250

Von diesen schmerzlichen Prüfungen hat Bahá'u'lláh wiederholt Zeugnis abgelegt: »Bei der Gerechtigkeit des Allmächtigen! Würde Ich dir alles aufzählen, was Mich befallen hat, Seele und Gemüt der Menschen wären unfähig, die Last all dessen zu tragen. Gott selbst ist Mir Zeuge.« »Zwanzig Jahre sind vergangen«, schrieb Er, an die Könige der Christenheit gewandt», in denen Wir jeden Tag die Pein einer neuen Trübsal gekostet haben. Keiner von denen, die vor Uns waren, hat Dinge erduldet, wie Wir sie erdulden. Könntet ihr es doch erkennen! Die sich gegen uns erhoben, haben uns hingerichtet, unser Blut vergossen, unser Eigentum geplündert, unsere Ehre verletzt.« »Gedenke Meiner Schmerzen«, offenbart Er in anderem Zusammenhang, »Meiner Sorge und Unruhe, Meiner Leiden und Prüfungen, Meines Zustands der Gefangenschaft, der Tränen, die Ich vergoß, und nun Meiner Kerkerhaft in diesem entlegenen Lande ... Könnte man dir sagen, was die Altehrwürdige Schönheit befallen hat, du flöhest hinaus in die Wildnis und weintest mit großem Wehe . . . Jeden Morgen, den Ich Mich von Meinem Lager erhob, fand Ich die Heerscharen ungezählter Heimsuchungen hinter Meiner Tür versammelt, und jeden Abend, wenn Ich Mich niederlegte, siehe, da war Mein Herz zerrissen von all dem, was es von der teuflischen Grausamkeit seiner Feinde erduldet hat.«

#251

Die Befehle, welche diese Feinde erließen, die Verbannungen, welche sie anordneten, die Beleidigungen, welche sie zufügten, die Pläne, welche sie schmiedeten, die Untersuchungen, welche sie einleiteten, die Drohungen, welche sie aussprachen, die Greueltaten, zu denen sie gewillt waren, die Ränke und Niederträchtigkeiten, zu denen sie, ihre Minister, ihre Statthalter und Militärgewaltigen sich erniedrigten - dies alles ergibt einen Bericht, wie er kaum seinesgleichen in der Geschichte einer Offenbarungsreligion findet. Die bloße Aufzählung der hervorstechendsten Züge dieses dunklen Dramas würde Bände füllen. Sie waren sich wohl bewußt, daß der geistige und administrative Mittelpunkt der Sache, die auszurotten sie bestrebt waren, nunmehr in ihren Herrschaftsbereich übergewechselt war, daß deren Führer türkische Untertanen waren, daß alle Hilfsquellen, über die jene verfügten, ihrer eigenen Gnade ausgeliefert waren. Daß es während einer Zeit von fast siebzig Jahren dieser Gewaltherrschaft, die noch in der Fülle ihrer unangefochtenen Zwangsmittelstand, die durch nie endende Machenschaften der staatlichen und geistlichen Behörden eines Nachbarlandes noch gekräftigt und durch die Unterstützung jener verwandten Bahá'u'lláhs, die sich gegen Seine Sache aufgelehnt und sich davon getrennt hatten, noch ermutigt wurden - daß es dieser Gewaltherrschaft am Ende nicht gelungen ist, eine bloße Handvoll verurteilter Untertanen auszurotten, muß für jeden nichtgläubigen Betrachter eine der fesselndsten, geheimnisvollsten Episoden der Zeitgeschichte bleiben.

#252

Die Sache, deren sichtbares Oberhaupt noch immer Bahá'u'lláh war, hatte trotz der Berechnungen eines kurzsichtigen Feindes unbestreitbar triumphiert. Kein unbefangener Geist, der durch die äußeren Lebensumstände des Gefangenen von 'Akká hindurchblickte, konnte dies noch länger verkennen oder abstreiten. Obgleich sich die verminderte Spannung in den Verhältnissen nach dem Hinscheiden Bahá'u'lláhs vorübergehend wieder erhöhte und die Gefahren einer immer noch ungefestigten Lage wieder auflebten, war es doch in wachsendem Maße offenkundig, daß die heimtückischen Kräfte des Verfalls, die sich durch lange Jahre in die Eingeweide einer zerrütteten Nation gewühlt hatten, nunmehr einem Gipfelpunkt zustrebten. Eine Reihe innerer Zuckungen, jede verheerender als die vorhergehende, war bereits entfesselt, um schließlich eines der katastrophalsten Ereignisse der Neuzeit nach sich zu ziehen. Die Ermordung jenes anmaßenden Despoten im Jahre 1876, der russisch-türkische Zusammenstoß, der kurz darauf folgte, dann die Befreiungskriege, der Aufstieg der jungtürkischen Bewegung, die türkische Revolution von 1909, die den Sturz 'Abdu'l-Hamids beschleunigte, die Balkankriege mit ihren unheilvollen Folgen, die Befreiung Palästinas mit den Städten 'Akká und Haifa, dem Weltzentrum eines der Knechtschaft entronnenen Glaubens, im Herzen dieses Landes, die weitere Zerstückelung des türkischen Reiches durch den Vertrag von Versailles, die Abschaffung des Sultanats und der Untergang des Hauses der Osmanen, die Auslöschung des Kalifats, die Beseitigung der Staatsreligion, die Aufhebung des Gesetzes der Sharí'ah und die Verkündung eines allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, die Unterdrückung verschiedener Orden, Glaubensbekenntnisse, Überlieferungen und Zeremonien, die man für unauflöslich verwoben mit der Struktur der muslimischen Religion gehalten hatte - all dies folgte mit einer Leichtigkeit und Schnelligkeit, wie sie kein Mensch sich auszumalen gewagt hätte. in diesen verheerenden Schlägen, die von Freunden und Feinden, von christlichen Nationen wie von bekennenden Muslimen gleichermaßen ausgeteilt wurden, erkannte jeder Anhänger des verfolgten Glaubens Bahá'u'lláhs Zeichen der lenkenden Hand des verstorbenen Begründers seiner Religion, der aus dem Reich des Unsichtbaren eine Flut wohlverdienter Trübsale über einer widersetzlichen Religion und Nation entfesselte.

#253

Vergleichen Sie die Zeichen göttlicher Heimsuchung, wie sie die Verfolger Jesu Christi befiel, mit diesen geschichtsträchtigen Vergeltungen, die im zweiten Teil des ersten Jahrhunderts des Bahá'í-Zeitalters die Hauptfeinde der Religion Bahá'u'lláhs in den Staub warfen. Hatte nicht der römische Kaiser in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung nach einer qualvollen Belagerung Jerusalems die heilige Stadt verwüstet, den Tempel zerstört, das Allerheiligste entweiht und seiner Schätze beraubt, um diese nach Rom zu schaffen? Hatte er nicht auf dem Berge Zion eine heidnische Kolonie errichtet, die Juden niedergemetzelt, die überlebenden verbannt und zerstreut?

Vergleichen Sie ferner die Worte, die der verfolgte Christus nach dem Zeugnis des Evangeliums an Jerusalem richtete, mit Bahá'u'lláhs Botschaft für Konstantinopel, die Er in Seinem fernen Gefängnis offenbarte und in Seinem Heiligsten Buche aufzeichnete: »O Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und sie steinigest, die zu dir gesandt sind, wie oft wollte Ich deine Kinder versammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel nimmt!« Und wieder, als Er über diese Stadt weinte: »Hättest du doch, gerade du, wenigstens an diesem deinem Tage die Dinge erkannt, die deinem Frieden dienen! Aber nun sind sie vor deinen Augen verborgen. Denn die Tage werden über dich kommen, da deine Feinde einen Graben um dich legen und dich umzingeln und von jeder Seite bezwingen und dem Erdboden gleichmachen werden, und deine Kinder mit dir. Und sie werden keinen Stein in dir auf dem andern lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht kanntest.«

#254

»O Ort, an den Ufern zweier Meere gelegen!« so wendet sich Bahá'u'lláh an die Stadt Konstantinopel. »Wahrlich, der Thron der Tyrannei ist in dir errichtet, und die Flamme des Hasses ist in deinem Busen auf solche Weise entzündet, daß die Scharen der Höhe und jene, die den Erhabenen Thron umkreisen, jammern und wehklagen. Wir sehen in dir die Narren über die Weisen herrschen, und die Finsternis brüstet sich gegenüber dem Lichte. Du bist in der Tat von sichtbarem Hochmut erfüllt. Hat dein äußerer Glanz dich hoffärtig gemacht? Bei Ihm, welcher der Herr der Menschheit ist! Er soll bald vergehen, und deine Töchter und deine Witwen und alle Geschlechter, die in dir wohnen, werden wehklagen. So belehrt dich der Allwissende, der Allweise.«

An Sultán 'Abdu'l-'Aziz, jenen Monarchen, der alle drei Verbannungen Bahá'u'lláhs anordnete, richtete der Begründer unseres Glaubens während Seiner Gefangenschaft in des Sultáns Hauptstadt diese Worte: »Höre, o König, auf die Rede Dessen, der die Wahrheit spricht, der nicht von dir verlangt, daß du Ihn mit dem entlohnest, was Gott dir zu schenken beliebte, und der unfehlbar auf dem geraden Pfade wandelt ... Halte dir Gottes unfehlbare Waage vor Augen und wäge damit wie einer, der in Seiner Gegenwart steht, deine Handlungen jeden Tag, jeden Augenblick deines Lebens. Ziehe dich selbst zur Verantwortung, ehe du zur Rechenschaft gezogen wirst an dein Tag, da aus Furcht vor Gott kein Mensch die Kraft haben wird, aufrecht zu stehen, an dem Tag, da die Herzen der Achtlosen erzittern werden.«

#255

Den Ministern des türkischen Staates offenbarte Er im selben Sendschreiben: »Euch geziemt es, o Minister des Staates, die Gebote Gottes zu halten, eure eigenen Gesetze und Verordnungen aufzugeben und zu den Rechtgeleiteten zu gehören ... Binnen kurzem werdet ihr die Folgen dessen erkennen, was ihr in diesem eitlen Leben getan habt, und werdet dafür entlohnt werden ... Wie viele haben in vergangenen Zeiten dasselbe wie ihr getan und sind, auch wenn sie euch im Rang übertrafen, am Ende zum Staube zurückgekehrt und unausweichlich dem Gericht verfallen! ... Ihr werdet den Spuren jener folgen und eine Wohnstatt betreten müssen, wo keiner euch Freund noch Helfer ist ... Die Tage eures Lebens werden schwinden, und alles, womit ihr euch abgebt und worin ihr euch rühmt, wird vergehen, und ganz sicherlich wird euch eine Schar Seiner Engel an jenen Ort laden, da die Glieder der ganzen Schöpfung erbeben und jeder Bedrücker erschaudert ... Dies ist der Tag, der unentrinnbar über euch kommen wird, die Stunde, die niemand aufschieben kann.«

An die Bewohner Konstantinopels richtete Bahá'u'lláh, während Er als verbannter unter ihnen lebte, im selben Sendschreiben diese Worte: »Fürchtet Gott, ihr Bewohner der Stadt, und säet nicht die Saaten der Zwietracht unter den Menschen ... Eure Tage werden schwinden wie die Tage jener, die vor euch waren. Zum Staube werdet ihr zurückkehren, wie eure Vorväter zum Staube zurückkehrten.« »Bei Unserer Ankunft in der Stadt«, bemerkt Er ferner, »kamen Uns ihre Herrscher und Ältesten wie Kinder vor, die sich zusammentun und mit Lehm spielen ... Unser inneres Auge weinte bitterlich über sie und ihre Übertretungen und ihre völlige Mißachtung dessen, wozu sie erschaffen sind ... Der Tag naht, da Gott ein Volk erwecken wird, das sich Unserer Tage erinnern, die Geschichte Unserer Prüfungen erzählen und Unsere Rechte von denen einfordern wird, die Uns ohne den geringsten Beweis offenbares Unrecht getan haben. Wahrlich, Gott ist der Herr über das Leben Unserer Peiniger, und Er ist ihrer Werke wohl gewahr. Er wird sie gewiß um ihrer Sünden willen ergreifen. Wahrlich, Er ist der grimmigste der Rächer.« »Höret daher auf meine Rede«, ermahnt Er sie in Güte, »kehret zurück zu Gott und bereuet, damit Er in Seiner Gnade sich euer erbarme, eure Sünden hinwegwasche und eure Schuld vergebe. Die Größe Seines Erbarmens übertrifft den Ingrimm Seines Zornes, und Seine Gnade um greift in der Zukunft wie in der Vergangenheit alle, die ins Dasein gerufen und mit dem Gewande des Lebens bekleidet werden.«

#256

Schließlich finden wir im Lawh-i-Ra'ís die folgenden prophetischen Worte aufgezeichnet: »Höre, o Anführer, ... auf die Stimme Gottes, des Herrschers, des Helfers in Gefahr, des Selbstbestehenden ... Du hast begangen, o Anführer, was Muhammad, den Gesandten Gottes, im Erhabensten Paradiese aufstöhnen ließ. Die Welt hat dich so stolz gemacht, daß du dich abkehrtest von dem Angesicht, dessen Glanz die Himmlischen Heerscharen erleuchtet hat. Bald wirst du offenkundig verloren sein ... Der Tag naht heran, da das Land der Geheimnisse (Adrianopel) und seine Umgebung verwandelt und den Händen des Königs entgleiten werden. Aufruhr wird entstehen, die Stimme des Wehklagens wird erschallen, und die Zeichen des Unheils werden überall offenbar werden, und Verwirrung wird sich ausbreiten um dessentwillen, was diesen Gefangenen zugestoßen ist von den Scharen der Unterdrücker. Der Lauf der Dinge wird sich ändern, und die Zustände werden so drückend werden, daß sogar die Sandkörner auf den öden Hügeln stöhnen und die Bäume auf den Bergen weinen werden, und Blut wird überall fließen. Dann wirst du das Volk in schmerzlichem Elend schauen.«

#257

Dreizehnhundert Jahre mußten seit dem Tode des Propheten Muhammad vergehen, ehe voll und öffentlich die Unrechtmäßigkeit der Institution des Kalifats bewiesen werden konnte, deren Begründer die Amtsgewalt der rechtmäßigen Nachfolger des Gesandten Gottes an sich gerissen hatten. Diese Institution, die an ihrem Anfang so heiliges Recht mit Füßen getreten und die Kräfte einer so unseligen Glaubensspaltung entfesselt hatte, diese Institution, die in ihren letzten Tagen einem Glauben, dessen Vorläufer ein Nachkomme derselben Imáme war, deren Vollmacht sie verwarf, so empfindliche Schläge versetzte, verdiente durchaus die Züchtigung, die nun ihr Schicksal besiegelte.

Der Wortlaut gewisser Überlieferungen von Muhammad, deren Echtheit die Muslime selbst anerkennen und die von bedeutenden Bahá'í-Gelehrten und -Schriftstellern ausführlich zitiert worden sind, wird den Beweis erhärten und den Gegenstand beleuchten, den ich zu erläutern versuche: »In den letzten Tagen wird schwere Trübsal Mein Volk von seinen Herrschern her befallen, so schlimm, daß keiner je Schlimmeres hörte. So heftig wird sie sein, daß niemand Zuflucht finden kann. Dann wird Gott einen Meiner Nachkommen, einen Sproß Meiner Familie herniedersenden, und Er wird die Erde mit Redlichkeit und Gerechtigkeit erfüllen, wie sie mit Ungerechtigkeit und Tyrannei gefüllt gewesen ist.« Und weiterhin: »Eines Tages wird Mein Volk bezeugen, daß vom Islám nichts weiter geblieben ist als ein Name und vom Qur'án nichts als bloße Erscheinung. Die Schriftgelehrten jener Zeit werden die schlimmsten sein, die die Welt je gesehen hat. Unheil ist von ihnen ausgegangen, und auf sie wird es zurückfallen.« Und ein andermal: »Zu jener Stunde wird Sein Fluch auf euch herabkommen, und euer Fluch wird euch heimsuchen, und eure Religion wird ein leeres Wort auf eurer Zunge bleiben. Und wenn diese Zeichen unter euch erscheinen, dann erwartet den Tag, da der rotglühende Wind über euch hinjagt, oder den Tag, da ihr verunstaltet werdet oder da Steine auf euch herabregnen.«

#258

»O Volk des Qur'án«, so bezeugt Bahá'u'lláh bedeutungsschwer, an die vereinten Kräfte des sunnitischen und des shí'itischen Islám gewandt, »wahrlich, der Prophet Gottes, Muhammad, vergießt Tränen beim Anblick eurer Grausamkeit. Zweifellos seid ihr euren üblen und verderbten Lüsten gefolgt und habt euer Gesicht vom Lichte der Führung abgekehrt. Bald werdet ihr die Folgen eurer Taten bezeugen; denn der Herr, Mein Gott, ist auf der Hut und wacht über euer Verhalten ... O Schar der Muslim-Geistlichen! Eure Taten haben die erhabene Stufe des Volkes erniedrigt, das Banner des Islám umgestoßen und seinen mächtigen Thron gestürzt.«

So viel über den Islám und die lähmenden Schläge, die seine Führer und Institutionen in diesem ersten Jahrhundert der Bahá'í- Zeitrechnung erhalten haben - und vielleicht noch erhalten werden. Wenn ich zu lange bei diesem Thema verweilt bin, wenn ich in übergroßem Maße Stellen aus den heiligen Schriften zur Unterstützung meiner Aussagen herangezogen habe, so war es nur in der festen Überzeugung, daß diese Vergeltungsschläge, die auf den schlimmsten Unterdrücker des Glaubens Bahá'u'lláhs herabgeregnet sind, zu den erregenden Begebenheiten unserer Übergangszeit und darüber hinaus zu den bestürzendsten, bedeutsamsten Geschehnissen der Zeitgeschichte zu zählen sind.

+7:9 #259
Verfall der christlichen Kirchen

Der sunnitische wie der shí'itische Islám hatten mit den Erschütterungen, die sie ergriffen haben, zur Beschleunigung des oben erwähnten Zersetzungsprozesses beigetragen - eines Vorgangs, der seinem Wesen nach den Weg für die völlige Neugestaltung und Einigung der Welt in jedem Lebensbereich bereiten muß. Wie aber steht es mit dem Christentum und seinen Glaubensbekenntnissen? Läßt sich sagen, daß dieser Vorgang der Entartung, der die Religion Muhammads in ihrer Struktur angegriffen hat, die dem Glauben Jesu Christi verbundenen Institutionen mit seinem Gifthauch verschont hat? Oder haben diese Institutionen bereits den Aufprall jener drohenden Mächte erfahren? Sind ihre Grundlagen so sicher, ist ihre Lebenskraft so groß, daß sie dem Angriff jener Mächte widerstehen können? Oder werden sie deren Heftigkeit zur Beute fallen, wenn sich nunmehr die Verwirrung einer chaotischen Welt ausbreitet und vertieft? Haben sich die Strenggläubigen unter ihnen erhoben, und wenn nicht, werden sie sich erheben, um den Andrang einer Sache zurückzuschlagen, welche bereits die Schranken muslimischer Orthodoxie niedergerissen hat und jetzt im europäischen wie im amerikanischen Erdteil zum Herzen der Christenheit vordringt? Würde solcher Widerstand die Saaten weiterer Zwietracht und Verwirrung säen und folglich mittelbar zur beschleunigten Ankunft des verheißenen Tages beitragen?

Auf solche Fragen können wir nur teilweise antworten. Die Zeit allein kann jene Rolle ihrem Wesen nach enthüllen, welche die unmittelbar mit dem christlichen Glauben verbundenen Institutionen in diesem gestaltgebenden Abschnitt des Bahá'í-Zeitalters, dieser dunklen Zeit des Übergangs für die ganze Menschheit, zu übernehmen bestimmt sind. Ereignisse jedoch, die bereits eingetreten sind, können ihrer Natur nach die Richtung aufzeigen, in die sich diese Institutionen bewegen. Bis zu einem gewissen Grade können wir die wahrscheinlichen Rückwirkungen jener Kräfte abschätzen, die innerhalb wie außerhalb des Bahá'í-Glaubens auf die Kirchen Einfluß gewinnen.

#260

Daß die Kräfte des Unglaubens, einer rein materialistischen Philosophie, des unverhohlenen Heidentums entfesselt sind, daß sie sich nunmehr ausbreiten, sich festigen und dadurch in mancherlei besonders machtvolle christliche Institutionen der westlichen Welt einzudringen beginnen, muß jeder unbefangene Beobachter zugestehen. Daß diese Institutionen zunehmend starrsinnig werden, daß einige wenige unter ihnen bereits in Umrissen den durchdringenden Einfluß der Sache Bahá'u'lláhs erkennen, daß sie in dem Maße, wie ihre innere Kraft abnimmt und ihre Disziplin sich lockert, mit wachsender Bestürzung den Aufstieg Seiner neuen Weltordnung verfolgen und sich nach und nach zum Angriff auf diese entschließen werden, daß solcher Widerstand jedoch ihren Niedergang beschleunigt, wird unter denen, die den fortschritt Seiner Sache aufmerksam beobachten, kaum jemand in Frage stellen wollen.

»Die Lebenskraft des Glaubens der Menschen an Gott«, bezeugt Bahá'u'lláh, »stirbt aus in allen Landen. Nur Seine heilende Arznei kann sie jemals wiederherstellen. Der Rost der Gottlosigkeit frißt sich in das Triebwerk der menschlichen Gesellschaft. Was außer dem Heiltrank Seiner mächtigen Offenbarung kann sie reinigen und neu beleben?« »Die Welt liegt in Wehen«, schreibt Er weiterhin, »ihre Unruhe wächst von Tag zu Tag. Ihr Antlitz ist auf Eigensinn und Unglauben gerichtet. Ihr Zustand wird so werden, daß es nicht angemessen noch schicklich wäre, ihn jetzt zu enthüllen.«

#261

Die Gefahr der Verweltlichung, die den Islám angreift und seine noch übriggebliebenen Institutionen untergräbt, die Persien befällt, Indien durchdringt und in der Türkei triumphierend das Haupt hebt, hat sich bereits in Europa ebenso wie in Amerika kundgetan und stellt nunmehr jede fest begründete Religion von der Grundlage her in Frage, besonders aber jene Institutionen und Gemeinschaften, die mit dem Glauben Jesu Christi gleichzusetzen sind. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, daß wir in einen Zeitabschnitt eintreten, den der künftige Geschichtsschreiber als einen der kritischsten in der Geschichte des Christentums betrachten wird.

Schon räumen einige Hauptfiguren der christlichen Religion ein, wie ernst die Lage ist, der sie gegenüberstehen. »Eine Woge des Materialismus fegt rund um die Welt«, lautet das Zeugnis ihrer Missionare, wie es in amtlichen Berichten bekundet ist. »Die Druckwelle des modernen Industrialismus dringt bis in die Urwälder Zentralafrikas und die Steppen Innerasiens. Sie macht die Menschen überall abhängig von materiellen Dingen und nimmt sie ganz dafür in Anspruch. Daheim hat die Kirche vielleicht zu glattzüngig von der Kanzel oder vom Rednerpult herunter über die Gefahr der Verweltlichung gesprochen, obgleich wir selbst in England mehr als nur einen Schimmer von ihrer Tragweite mitbekommen. Aber für die Kirche in Übersee ist das schreckliche Wirklichkeit, ein Feind, mit dem sie bereits handgemein ist ... In einem Land nach dem andern sieht sich die Kirche einer neuen Gefahr gegenüber, einem entschlossenen, feindseligen Angriff. Aus Sowjetrußland stößt ein entschieden religionsfeindlicher Kommunismus westwärts nach Europa und Amerika, ostwärts nach Persien, Indien, China und Japan vor. Er ist eine Wirtschaftstheorie, untrennbar mit der Gottlosigkeit zusammengeschirrt. Er ist religiöse Religionslosigkeit ... Er hat einen leidenschaftlichen Missionsgeist, betreibt seinen Feldzug gegen Gott daheim an den Grundmauern der Kirche und greift ihre vorderste Linie in den nichtchristlichen Ländern an. Ein derart vollbewußter, unverhohlener, organisierter Angriff gegen die Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen ist etwas Neues in der Weltgeschichte. Ebenso wohlüberlegt in seiner entschiedenen Feindschaft gegenüber dem Christentum ist in einigen Ländern eine andere Form des sozialen und politischen Glaubens: der Nationalismus. Aber im Gegensatz zum Kommunismus ist der nationalistische Angriff auf das Christentum oft eng verknüpft mit irgendeiner Form nationaler Religion: mit dem Islám in Persien und in Ägypten, mit dem Buddhismus in Ceylon, während der Kampf um Selbstverwaltungsrechte in Indien mit einer Wiederbelebung sowohl des Hinduismus als auch des Islám verbunden ist.«

#262

Ich brauche in diesem Zusammenhang nicht zu versuchen, den Ursprung und das Wesen jener Wirtschaftstheorien und Gesellschaftsphilosophien der Nachkriegszeit zu erläutern, die direkt und mittelbar ihren verderblichen Einfluß auf die Institutionen und die Glaubenslehren eines der weitestverbreiteten, bestorganisierten Religionssysteme dieser Welt ausgeübt haben und weiterhin ausüben. Ich befasse mich mehr mit ihrem Einfluß als mit ihrem Ursprung. Das übermäßige Wachstum der Industrialisierung und ihrer üblen Begleitumstände, von denen das vorstehende Zitat Zeugnis ablegt, die aggressive Politik und die beharrlichen Anstrengungen der Urheber und Organisatoren der kommunistischen Bewegung, die Verstärkung eines kriegerischen Militarismus, in gewissen Ländern mit einer systematischen VerIeumdungskampagne gegen jede Form kirchlichen Einflusses verbunden - dies alles hat zweifellos zur Entchristlichung der Massen beigetragen und ist für den bemerkenswerten Niedergang der Kirche, was ihre Autorität, ihr Ansehen und ihre Macht angeht, verantwortlich. »Die ganze Vorstellung von Gott«, verkünden die Verfolger der christlichen Religion hartnäckig, »ist vom altorientalischen Despotismus abgeleitet, eine Vorstellung, die des freien Mannes völlig unwürdig ist.« »Religion«, hat einer ihrer Führer behauptet, »ist das Opium des Volkes«. »Religion«, so der Wortlaut ihrer amtlichen Veröffentlichungen, »ist eine Brutalisierung des Volkes. Die Erziehung muß so gesteuert werden, daß sie diese schwachsinnige Erniedrigung aus der Seele des Volkes auslöscht.«

#263

In anderen Ländern hebt die Hegelsche Philosophie in Gestalt eines unduldsamen, kämpferischen Nationalismus den vergöttlichten Staat hervor, schärft den Kriegsgeist und reizt zum Rassenhaß. So führt sie gleichermaßen zu einer auffallenden Schwächung der Kirche und zu einer schweren Minderung ihres geistigen Einflusses. Im Unterschied zu dem kühnen Angriff, den eine erklärtermaßen atheistische Bewegung innerhalb der Sowjetunion wie außerhalb ihrer Grenzen gegen die Kirche in Gang setzt, ist diese nationalistische Philosophie, von christlichen Führern und Regierungen vertreten, eine Attacke gegen die Kirche, die ihre eigenen bisherigen Anhänger gegen sie richten, ein Verrat ihrer Sache durch ihr eigenes Fleisch und Blut. So wird sie durch einen artfremden, kriegerischen Atheismus von außen und durch die Prediger einer ketzerischen Lehre von innen gleichermaßen durchbohrt. Beide Kräfte, jede in ihrem besonderen Bereich wirkend und ihre eigenen Waffen und Methoden gebrauchend, werden mächtig gestärkt und ermutigt durch den herrschenden Geist des Modernismus mit seiner Betonung einer rein materialistischen Philosophie, die in dem Maße, wie sie sich ausbreitet, die Religion vom Alltagsleben des Menschen abzutrennen droht.

#264

Der Wirkungsverbund dieser seltsamen, verderbten Lehren, dieser gefährlichen, trügerischen Philosophien, wird natürlich von jenen besonders stark empfunden, die von ihren Glaubenslehren einen entgegengesetzten, völlig unvereinbaren Geist und Grundsatz eingeimpft bekommen. Die Folgen des unvermeidlichen Zusammenpralls dieser widerstreitenden Interessen waren in manchen Fällen verheerend, der entstandene Schaden nicht wiedergutzumachen. Die Entstaatlichung und Zerstückelung der orthodoxen Kirche in Rußland, die auf den von der römischen Kirche erlittenen Schlag im Gefolge des Zusammenbruchs der österreichisch-ungarischen Monarchie folgte, die Erregung, welche die katholische Kirche in Spanien ergriff und in ihrer Trennung vom Staate gipfelte, die Verfolgung derselben Kirche in Mexiko, die Haussuchungen, Verhaftungen, Einschüchterungen und Unterdrückungen, denen Katholiken und Lutheraner im Herzen Europas gleichermaßen unterworfen werden, die Unruhe, in die ein anderer Zweig der Kirche im Ergebnis des Kriegszuges in Afrika versetzt ist, der Niedergang in den Geschicken christlicher Missionen, anglikanischer wie presbyterianischer, in Persien, in der Türkei und im Fernen Osten, die unheilvollen Zeichen, die ernste Verwicklungen in den heutzutage zweideutigen, unsicheren Beziehungen zwischen dem päpstlichen Stuhl und gewissen Nationen auf dem europäischen Kontinent ankünden - dies sind die hervorstechenden Züge der Rückschläge, welche die Mitglieder und die Führer der kirchenchristlichen Institutionen erleiden.

#265

Daß der innere Zusammenhalt von manchen dieser Institutionen in nicht wiedergutzumachender Weise erschüttert ist, liegt für jeden scharfsinnigen Betrachter zu offen, als daß er es mißdeuten oder abstreiten könnte. Die Kluft zwischen den Buchstabengläubigen und den Freisinnigen unter den Kirchenmitgliedern weitet sich stetig aus. Die Glaubenssätze und Dogmen dieser Institutionen sind verwässert; in manchen Fällen sind sie unbeachtet und aufgegeben. Ihr Zugriff auf das menschliche verhalten lockert sich, ihr Klerus schwindet in seiner Personalstärke wie in seinem Einfluß dahin. Die Furchtsamkeit und Unaufrichtigkeit ihrer Prediger zeigt sich an vielen Beispielen. Ihre Stiftungen sind in manchen Ländern verschwunden, der Gehalt ihrer religiösen Ausbildung ist abgesunken. ihre Andachtsstätten sind zum Teil verlassen, zum Teil zerstört; Mißachtung für Gott, Seine Lehren und Seine Ziele hat sie gelähmt und Erniedrigung auf sie gehäuft.

Könnte es nicht sein, daß die Auflösungserscheinungen, unter denen der sunnitische und der shí'itische Islám so auffallend leiden, in dem Maße, wie sie ihren Höhepunkt erreichen, noch weiteres Unheil für die verschiedenen Bekenntnisse der christlichen Kirche entfesseln? in welcher Weise und mit welcher Geschwindigkeit dieser Vorgang, der bereits eingesetzt hat, sich weiter entwickelt, das kann nur die Zukunft zeigen. Auch kann gegenwärtig noch nicht abgeschätzt werden, in welchem Ausmaß die Angriffe einer noch immer mächtigen Geistlichkeit gegen die Bollwerke des Glaubens Bahá'u'lláhs im Westen diesen Niedergang verstärken und die Reichweite unausbleiblicher Unglücksfälle erweitern.

Wenn die Christenheit wünscht und erwartet, der Welt in der gegenwärtigen Krise zu dienen, so schreibt ein Geistlicher der presbyterianischen Kirche in Amerika, dann muß sie »durch das Christentum hindurch zu Christus zurückblenden, durch die Jahrhundertealte Religion um Jesus zurück zur ursprünglichen Religion Jesu«. Andernfalls, fügt er bedeutungsvoll hinzu, »wird der Geist Christi in anderen Institutionen als den unsrigen leben«.

#266

Ein so deutlicher Niedergang an Kraft und Zusammenhalt der Bestandteile, welche die christliche Gesellschaft bilden, führt seinerseits, wie leicht vorauszusehen, zum Aufstieg einer wachsenden Zahl obskurer Kulte, seltsamer neuer Andachtsformen, fruchtloser Philosophien, deren ausgeklügelte Lehren die Verwirrung eines geplagten Zeitalters mehren. in ihren Lehrsätzen und Bestrebungen spiegeln und bezeugen sie, so kann man sagen, den Aufruhr, die Unzufriedenheit, die wirren Hoffnungen der enttäuschten Massen, welche die Sache der christlichen Kirchen verlassen und ihre Mitgliedschaft aufgegeben haben.

Fast kann man eine Parallele ziehen zwischen den verworrenen und verwirrenden Gedankensystemen, die das unmittelbare Ergebnis der Hilflosigkeit und des Durcheinanders im christlichen Glauben sind, und der großen Vielfalt von Volkskulten, von Mode- und Fluchtphilosophien, wie sie während der ersten Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung blühten und die Staatsreligion des römischen Volkes aufzusaugen und zu verkehren suchten. Die heidnischen Gottsucher, die damals die große Bevölkerungsmasse des weströmischen Reiches ausmachten, sahen sich umringt, vielfach sogar bedroht, von der weitverbreiteten Sekte der Neuplatoniker, von den Anhängern der Naturreligionen, von gnostischen Philosophen, vom Philonismus, vom Mithraskult, von den Anhängern des alexandrinischen Kultes und einer Menge verwandter Sekten und Glaubenslehren, ganz ähnlich wie die Verteidiger des christlichen Glaubens, der heute vorherrschenden Religion der westlichen Welt, im ersten Jahrhundert der Bahá'í-Zeitrechnung gewahr werden, wie ihr Einfluß unterspült wird von einer Flut widerstreitender Glaubenslehren, Gebräuche und Richtungen, die ihr eigener Bankrott zu schaffen geholfen hat. Damals war aber dieselbe christliche Religion, die heute in einen solchen Zustand der Unfähigkeit verfallen ist, schließlich fähig, die Institutionen des Heidentums hinwegzufegen, die zuvor blühenden Kulte zu überlagern und zu unterdrücken.

#267

Institutionen, die vom Geist und von den Lehren Jesu Christi weit abgeirrt sind, müssen in dem Maße, wie die keimende Weltordnung Bahá'u'lláhs Gestalt annimmt und sich entfaltet, zwangsläufig in den Hintergrund treten und dem Fortschritt der göttlich eingesetzten Institutionen Platz machen, die mit Seinen Lehren unzertrennlich verwoben sind. Der innewohnende Geist Gottes, der im apostolischen Zeitalter der Kirche ihre Mitglieder beseelte, die ursprüngliche Reinheit ihrer Lehren, der erste Glanz ihres Lichtes werden ohne Zweifel als unausbleibliche Folge dieser erneuten Bestimmung ihrer grundlegenden Wahrheiten und als Klarstellung ihres eigentlichen Zieles wiedergeboren und neu belebt werden.

Denn der Glaube Bahá'u'lláhs kann, wenn wir ihn glaubenstreu einordnen, niemals und unter keinem Gesichtspunkt seiner Lehren von dem Ziel, das den Glauben Jesu Christi beseelt, oder von der göttlichen Vollmacht, die in den Glauben Jesu Christi gelegt ist, abweichen oder gar damit im Streite liegen. Die glühende Huldigung, die Bahá'u'lláh selbst dem Begründer der christlichen Religion darzubringen sich bewogen fühlte, stellt ein allgenügendes Zeugnis für die Wahrheit dieses zentralen Grundsatzes im Bahá'í-Glauben aus: »Wisse, daß die ganze Schöpfung in großer Trauer weinte, als der Menschensohn Seinen Odem zu Gott aufgab. Indem Er sich selbst opferte, wurde jedoch allem Erschaffenen eine neue Fähigkeit eingeflößt. Die Beweise hierfür, bei allen Völkern der Erde bezeugt, sind nun vor dir offen bar. Die tiefste Weisheit, welche die Weisen äußern, die gründlichste Gelehrsamkeit, die irgendein Geist entfaltet, die Künste, welche die fähigsten Hände hervorbringen, der Einfluß, den die kraftvollsten Herrscher üben, sind nur Offenbarungen der belebenden Macht, die Sein überragender, Sein alldurchdringender und strahlender Geist entfesselt hat. Wir bezeugen, daß Er, als Er in die Welt trat, den Glanz Seiner Herrlichkeit über alles Erschaffene ergoß. Durch Ihn wurde der Aussätzige vom Aussatz der Verderbtheit und der Unwissenheit geheilt. Durch Ihn wurden der Unreine und der Widerspenstige geläutert. Durch Seine aus dem allmächtigen Gott geborene Macht wurden dem Blinden die Augen geöffnet und dem Sünder die Seele geheiligt ... Er ist es, Der die Welt geläutert hat. Selig ist der Mensch, der sich Ihm mit lichtstrahlendem Angesicht zuwendet.«

+7:10 #268
Zeichen des sittlichen Niedergangs

Über den Niedergang der religiösen Institutionen, deren Auflösung einen so wichtigen Gesichtspunkt des gestaltgebenden Abschnitts im Bahá'í-Zeitalter darstellt, braucht meines Erachtens nichts mehr gesagt zu werden. Der Islám ist, als Ergebnis der anschwellenden Flut der Verweltlichung und in unmittelbarer Folge seiner erklärten, beharrlichen Feindschaft gegen den Glauben Bahá'u'lláhs gleichermaßen, zu Tiefen der Erniedrigung abgesunken, wie er sie nur selten in seiner Geschichte erreicht hat. Das Christentum ist ebenfalls aus Gründen, die denen im Fall seines Schwesterglaubens nicht ganz unähnlich sind, ständig schwächer geworden und steuert in wachsendem Maße sein Teil zum Vorgang allgemeinen Verfalls bei - zu einem Vorgang, der dem Wiederaufbau der menschlichen Gesellschaft von Grund auf notwendig vorangehen muß.

#269

Die Merkmale sittlichen Niedergangs, wie sie sich von den Anzeichen für den Verfall der religiösen Institutionen unterscheiden, scheinen nicht weniger bemerkbar und bedeutsam zu sein. Der Verfall, der in den Geschicken der islámischen und christlichen Institutionen eingesetzt hat, findet, so kann man wohl sagen, im Leben und verhalten der einzelnen Menschen, die jene Institutionen bilden, sein Gegenstück, in welche Richtung wir auch den Blick wenden, wie oberflächlich wir auch die Taten und Reden der gegenwärtigen Generation beobachten, wir können nicht umhin, von den Beweisen sittlichen Verfalls, welche die Männer und Frauen um uns her in ihrem persönlichen Leben nicht weniger denn als Bestandteile der Gesellschaft zur Schau stellen, betroffen zu sein.

Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß der Verfall der Religion als gesellschaftlicher Macht, für den die Entartung religiöser Institutionen ja nur ein äußeres Anzeichen ist, die Hauptverantwortung für einen derart schlimmen, derart offenkundigen Übelstand trägt. »Die Religion«, schreibt Bahá'u'lláh, »ist das wichtigste Mittel zur Begründung von Ordnung in der Welt und zur Befriedung aller, die darin wohnen. Die Schwächung der Pfeiler der Religion stärkt die Hände der Unwissenden und macht sie dreist und anmaßend. Wahrlich, Ich sage, was immer die erhabene Stellung der Religion erniedrigt, vermehrt die Widerspenstigkeit der Gottlosen, und das Ergebnis kann nur Gesetzlosigkeit sein.« »Die Religion«, stellt Er in einem anderen Sendschreiben fest, »ist ein strahlendes Licht und ein uneinnehmbares Bollwerk für den Schutz und die Wohlfahrt der Völker dieser Welt; denn die Gottesfurcht treibt den Menschen an, sich fest an das zu halten, was gut ist, und alles Böse zu meiden. Sollte die Lampe der Religion verdunkelt werden, so werden Chaos und Wirrnis die Folge sein, und die Lichter der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens werden zu scheinen aufhören.« »Wisse«, schreibt Er in wieder anderem Zusammenhang, »daß die wahrhaft Weisen die Welt mit dem menschlichen Tempel vergleichen. Wie der Körper des Menschen eines Gewandes bedarf, sich zu kleiden, so muß der Menschheit Körper mit dem Mantel der Gerechtigkeit und Weisheit geschmückt sein. Ihr Prachtgewand ist die Offenbarung, die Gott ihr verliehen hat.«

#270

Kein Wunder, daß beklagenswerter Niedergang einsetzt, wenn als Ergebnis menschlicher Verderbtheit das Licht der Religion in den Menschenherzen erlischt, wenn das gottbestimmte Prachtgewand, das den menschlichen Tempel schmücken soll, mit Vorbedacht weggeworfen wird, und kein Wunder, daß dieser Niedergang alle Übel nach sich zieht, die eine widerspenstige Seele zu enthüllen vermag. Die Verderbnis der menschlichen Natur, die Erniedrigung des menschlichen Verhaltens, die Entartung und Auflösung menschlicher Institutionen offenbaren sich unter solchen Umständen in ihren schlimmsten, abstoßendsten Bildern. Der menschliche Charakter wird entwürdigt, jedes Vertrauen wird erschüttert, die Nervenstränge der Zucht und Ordnung erschlaffen, die Stimme des menschlichen Gewissens wird zum Schweigen gebracht, der Sinn für Scham und Anstand wird verdunkelt, die Vorstellungen von Pflicht, Zusammenhalt, Gegenseitigkeit und Treue werden verdreht, das Empfinden für Friedfertigkeit, Freude und Hoffnung wird nach und nach ausgelöscht.

#271

Das ist, gestehen wir es uns nur ein, der Zustand, dem sich die einzelnen Menschen und die Institutionen gleichermaßen nähern. »Keine zwei Menschen«, schreibt Bahá'u'lláh, die traurige Lage einer irrenden Menschheit beklagend, »keine zwei Menschen lassen sich finden, von denen man sagen könnte, sie seien äußerlich wie innerlich einig. Die Zeichen der Zwietracht und Bosheit sind überall sichtbar, obgleich alle zu Einklang und Eintracht erschaffen sind.« »Wie lange«, ruft Er im selben Sendschreiben aus, »will die Menschheit in ihrem Eigensinn verharren? Wie lange wird das Unrecht fortbestehen? Wie lange sollen Chaos und Verwirrung unter den Menschen herrschen? Wie lange wird Zwietracht das Antlitz der Gesellschaft zerwühlen? Die Winde der Verzweiflung wehen aus jeder Richtung, und der Hader, der das Menschengeschlecht spaltet und peinigt, nimmt täglich zu.«

Der Wiederausbruch der religiösen Unduldsamkeit, der Rassenfeindschaft, der chauvinistischen Anmaßung, die wachsenden Beweise von Selbstsucht, Argwohn, Angst und Betrug, die Ausbreitung des Terrorismus, der Gesetzlosigkeit, der Trunksucht, des Verbrechens, der unstillbare Durst und das fieberhafte Trachten nach weltlichen Nichtigkeiten, Reichtümern und Vergnügungen, die Schwächung der Familienzusammengehörigkeit, die Lockerung der elterlichen Gewalt, das Abgleiten in schwelgerisches Sichgehenlassen, die verantwortungslose Einstellung zur Ehe und ihr zufolge die steigende Flut von Scheidungen, die Entartung von Kunst und Musik, die Vergiftung der Literatur und die Verderbnis der Presse, der wachsende Einfluß und die Geschäftigkeit jener »Propheten des Verfalls«, die für die Kameradschaftsehe eintreten, eine Philosophie der Nacktkultur predigen, Mäßigung ein Hirngespinst nennen, Propheten, welche die Hervorbringung von Kindern als geheiligten Hauptzweck der Ehe ablehnen, die Religion als Opium des Volkes schmähen und, wenn man ihnen freien Lauf ließe, die Menschheit zurück zur Barbarei, zum Chaos und zum schließlichen Erlöschen führen würden - das sind die hervorstechenden Merkmale einer zerfallenden Gesellschaft, die entweder wiedergeboren wird oder umkommen muß.

+7:11 #272
Der Zusammenbruch der politischen und wirtschaftlichen Struktur

Politisch ist ein ähnlicher Niedergang, ein nicht minder deutlicher Beweis für Auflösung und Wirrnis in der Epoche, in der wir leben, festzustellen - in einer Zeit, die ein künftiger Geschichtsschreiber sehr wohl als Einleitung zu dem großen Zeitalter, dessen goldene Tage wir uns erst in Umrissen vorstellen können, erkennen mag.

Die leidenschaftlichen, gewalttätigen Ereignisse, die sich in den letzten Jahren bis fast zu dem Punkte zugespitzt haben, da die politische und wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft völlig zusammenbricht, sind zu zahlreich und zu verwickelt, als daß wir im Rahmen dieses allgemeinen Überblicks versuchen könnten, zu einer angemessenen Bewertung ihrer Wesenszüge zu gelangen. Auch scheinen diese Heimsuchungen, so schmerzlich sie gewesen sein mögen, noch nicht den Höhepunkt erreicht und die volle Wucht ihrer Zerstörungskraft ausgeübt zu haben. Die ganze Welt, wo und wie wir sie auch überblicken, bietet uns das traurige, jämmerliche Schauspiel eines ungeheuren, entkräfteten, im Sterben liegenden Organismus, politisch zerrissen und wirtschaftlich erdrosselt von Kräften, die er nicht mehr kontrollieren oder auch nur begreifen kann. Die Weltwirtschaftskrise, Nachspiel der schlimmsten Gottesgerichte, welche die Menschheit je erlitten hat, die Auflösung des Versailler Systems, das Wiedererstarken des Militarismus in seiner bedrohlichsten Erscheinung, der Fehlschlag ausgedehnter Experimente und das Versagen neugeborener Institutionen vor der Aufgabe, Ruhe und Frieden der Völker, Klassen und Nationen zu sichern, all dies hat die Menschheit bitter enttäuscht und niedergeschlagen. ihre Hoffnungen sind größtenteils zunichte gemacht, ihre Lebenskraft verebbt, ihr Dasein ist seltsam aus den Fugen geraten, ihre Einheit ist ernstlich gefährdet.

#273

Auf dem europäischen Festland gliedern eingefleischter Haß und wachsender Wettkampf die unglücklichen Völker und Nationen ein weiteres Mal in Fronten, die unerbittlich die schrecklichsten Heimsuchungen herbeizuführen drohen, welche die Menschheit in der ganzen langen Geschichte ihres Martyriums erduldet hat. Auf dem nordamerikanischen Kontinent deuten wirtschaftliche Not, industrielle Zerrüttung, weitverbreitete Unzufriedenheit über die fehlgeschlagenen Versuche, eine unausgeglichene Wirtschaftsstruktur wieder in Ordnung zu bringen, ferner eine unruhige Furcht vor der Möglichkeit politischer Verwicklungen in Europa und in Asien darauf hin, daß eine Entwicklungsphase im Kommen ist, die sich als eine der kritischsten in der Geschichte der amerikanischen Republik erweisen könnte. Asien befindet sich noch weitgehend im Griff einer der schwersten Prüfungen seiner neueren Geschichte und sieht sich nunmehr an seinen östlichen Grenzen bedroht und bestürmt von Mächten, welche die Kämpfe des wachsenden Nationalismus und der fortschreitenden Industrialisierung seiner sich befreienden Volksgruppen zu verstärken trachten. Im Herzen Afrikas flammt das Feuer eines grimmigen, blutigen Krieges, der, wie sein Ausgang auch werden mag, durch seine weltweiten Rückwirkungen einen verwirrenden Einfluß auf die Rassen und die farbigen Nationen der Menschheit ausstrahlt.

#274

Mit nicht weniger als zehn Millionen Mann unter Waffen, gedrillt und ausgebildet im Umgang mit den scheußlichsten Vernichtungsmaschinen, welche die Wissenschaft ersonnen hat, mit dreimal so vielen, die über die Herrschaft fremder Rassen und Regierungen aufgebracht und erzürnt sind, mit einem gleich großen Heer verbitterter Bürger, die sich jene materiellen Güter primitivster Notdurft nicht beschaffen können, welche andere bewußt vernichten, mit einer noch größeren Masse menschlicher Wesen, die unter weiter wachsenden Rüstungslasten ächzen und durch den Zusammenbruch des Welthandels verarmt sind - mit Übelständen wie diesen scheint die Menschheit endgültig in den Vorhof der qualvollsten Zeitspanne ihres Daseins einzutreten.

Muß man sich darüber wundern, daß ein bekannter europäischer Minister kürzlich in einer Erklärung mit Vorbedacht diese Warnung geäußert haben soll: »Wenn in Europa nochmals ein Krieg größeren Umfangs ausbricht, muß das den Zusammenbruch der Zivilisation, wie wir sie kennen, zur Folge haben. In den Worten des verstorbenen Lord Bryce: 'Wenn ihr den Krieg nicht beendet, wird der Krieg euch beenden.'« »Das arme Europa ist nervenschwach«, bekundet eine der herausragenden Figuren unter seinen gegenwärtigen Diktatoren. »Es hat seine Erholungsfähigkeit verloren, die Lebenskraft des Zusammenhalts, der Synthese. Ein weiterer Krieg würde uns vernichten.« »Wahrscheinlich«, so schreibt einer der hervorragendsten, gelehrtesten Würdenträger der christlichen Kirche, »muß es einen weiteren großen Konflikt in Europa geben, damit ein für allemal eine internationale Gewalt endgültig begründet wird. Dieser Konflikt wird der schrecklichste der schrecklichen werden, und möglicherweise wird unsere Generation bestimmt sein, Hunderttausende von Leben zu opfern.«

#275

Das unglückselige Scheitern sowohl der Abrüstungs- als auch der Wirtschaftskonferenz, die Hemmnisse gegen die Verhandlungen über die Begrenzung der Bewaffnung zur See, der Rückzug zweier der mächtigsten, am schwersten bewaffneten Nationen der Welt aus ihrer Tätigkeit im Völkerbund und ihrer Zugehörigkeit dazu, die Untauglichkeit des parlamentarischen Systems, wie sie die neuesten Entwicklungen in Europa und Amerika bezeugen, die Unfähigkeit der Führer und Vertreter der kommunistischen Bewegung, den vielgepriesenen Grundsatz der Diktatur des Proletariats durch ihr Verhalten zu rechtfertigen, die Gefahren und Entbehrungen, denen die Herrscher der totalitären Staaten in den letzten Jahren ihre Untertanen ausgesetzt haben - all dies beweist über den Schatten eines Zweifels hinaus die Unfähigkeit der heutigen Institutionen, jenes Unheil abzuwenden, das die menschliche Gesellschaft in wachsendem Maße bedroht. Was bleibt da übrig, so mag ein verwirrtes Geschlecht wohl fragen, um die Kluft zu beseitigen, die sich ständig weitet und es jederzeit verschlingen kann?

#276

Auf allen Seiten von sich häufenden Beweisen der Auflösung, des Aufruhrs und des Bankrotts umgeben, beginnen ernsthafte Männer und Frauen aus fast allen Lebensbereichen daran zu zweifeln, daß die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation sich aus eigener Kraft aus dem Morast ziehen kann, in den sie immer tiefer sinkt. Außer der Vereinigung der ganzen Menschheit wurde jedes System versucht, immer aufs neue versucht und für mangelhaft befunden. Kriege wurden immer wieder ausgetragen, Konferenzen ohne Zahl veranstaltet. Verträge, Pakte und Bündnisse wurden emsig ausgehandelt, abgeschlossen und neu überarbeitet. Regierungssysteme wurden geduldig durchgeprüft, beständig neugeformt und voneinander abgelöst. Pläne des wirtschaftlichen Wiederaufbaus wurden sorgfältig ausgedacht und peinlich genau ausgeführt. Und dennoch folgte Krise auf Krise. Die Geschwindigkeit des Niedergangs einer gefährlich schwankenden Welt hat sich entsprechend beschleunigt. Ein gähnender Abgrund droht satte wie hungrige Nationen, Demokratien wie Diktaturen, Kapitalisten wie Lohnempfänger, Europäer wie Asiaten, Juden wie Heiden, Weiße wie Farbige zu verschlingen. Eine zornige Vorsehung, so könnte ein Zyniker bemerken, hat einen hilflosen Planeten seinem Verhängnis überlassen und sein Schicksal unwiderruflich besiegelt. Schmerzgeprüft und enttäuscht, hat die Menschheit zweifellos die Orientierung und, wie es scheint, auch Glauben und Hoffnung verloren. Schwankend, hirtenlos, blind steht sie am Rande des Unheils. Ein Gefühl von unabwendbarem Verhängnis scheint sie zu durchdringen. Immer tieferes Düster senkt sich auf ihr Geschick, während sie immer weiter aus dem Vorhof in die eigentliche Dunkelzone ihres aufgewühlten Lebens hineingleitet.

Und doch: Sollten wir nicht, während die Schatten sich schwarz verdichten, alle Aufmerksamkeit darauf richten, daß Schimmer der Hoffnung immer wieder am internationalen Horizont aufblinken und das Dunkel mindern, das die Menschheit umgibt? Wäre es Lüge zu behaupten, in einer Welt unsteten Glaubens und wirren Denkens, in einer Welt stetig wachsender Kriegsrüstungen, unersättlichen Hasses und Wettkampfes lasse sich der - wenn auch unausgewogene - Fortschritt jener Kräfte, die im Einklang mit dem Zeitgeist arbeiten, bereits ausmachen? Obgleich der Urschrei des Nachkriegs-Nationalismus tagtäglich lauter und aufdringlicher schallt, obgleich der Völkerbund noch im Keimzustand ist, obgleich die Gewitterwolken, die sich zusammenziehen, vorübergehend seine Kräfte völlig verdunkeln und seinen Apparat völlig vernichten mögen, ist doch die Richtung, in der diese Institution wirkt, höchst bedeutungsvoll. Die seit ihrem Anbeginn erhobenen Stimmen, die unternommenen Anstrengungen, die bereits geleistete Arbeit lassen jene Triumphe erahnen, welche die jetzt geschaffene Institution oder eine andere, sie ablösende Körperschaft, zu erringen bestimmt ist.

+7:12 #277
Bahá'u'lláhs Grundsatz kollektiver Sicherheit

Ein allgemeines Sicherheitsabkommen war das Hauptziel, in welchem diese Bemühungen seit der Geburtsstunde des Völkerbundes zusammenstrebten. Der Sicherheitspakt, den die Mitglieder des Bundes in seiner ersten Entwicklungsphase erwogen und beraten hatten, die Debatte über das Genfer Protokoll, dessen Erörterung später unter den Nationen innerhalb wie außerhalb des Bundes so heftigen Streit erregte, der darauf folgende Vorschlag für Vereinigte Staaten von Europa und für den wirtschaftlichen Zusammenschluß des Kontinents, und nicht zuletzt die von den Mitgliedern eingeleitete Sanktionspolitik lassen sich als die wichtigsten Marksteine der wechselvollen Geschichte des Völkerbunds betrachten. Daß nicht weniger als fünfzig Nationen der Welt, alle Mitglieder des Völkerbundes, nach reiflicher Beratung zur Verurteilung einer Angriffshandlung kamen, die einer ihrer Bundesgenossen, eine Großmacht Europas, ihrer Meinung nach vorsätzlich begangen hatte, daß sie sich veranlaßt sahen, dieses Urteil zu verkünden, daß sie meistenteils übereinkamen, gemeinsame Sanktionen gegen den verurteilten Angreifer zu verhängen, daß ihnen die Durchführung dieses Beschlusses sehr weitgehend gelang, ist zweifellos ein Ereignis ohnegleichen in der menschlichen Geschichte. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde so das System kollektiver Sicherheit, das Bahá'u'lláh vorhergesagt und 'Abdu'l-Bahá erläutert hat, ernsthaft erwogen, erörtert und versucht. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde von Amts wegen anerkannt und öffentlich festgestellt, daß für die wirksame Errichtung dieses Systems kollektiver Sicherheit Festigkeit und Anpassungsfähigkeit gleichermaßen vonnöten sind - Festigkeit mit Einschluß des Gebrauchs angemessener Machtmittel als Gewähr für die Wirksamkeit des vorgeschlagenen Systems, Anpassungsfähigkeit des geplanten Apparats, damit er die rechtmäßigen Bedürfnisse und Bestrebungen seiner zu Schaden gekommenen Verfechter sicherstellen kann. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben sich die Nationen der Welt um den Versuch gemüht, kollektive Verantwortung auf sich zu nehmen und ihre verbalen Versprechungen durch die wirkliche Vorbereitung für gemeinsame Maßnahmen zu ergänzen. Und weiter machte sich zum ersten Mal in der Geschichte eine öffentliche Meinung als Bewegung bemerkbar, welche die von den nationalen Führern und Volksvertretern verkündete Entscheidung unterstützte, um kollektive Maßnahmen im Verfolg dieser Entscheidung zu sichern.

#278

Wie klar, wie prophetisch müssen im Lichte der jüngsten internationalen Entwicklungen die Worte klingen, die Bahá'u'lláh geäußert hat: »Seid einig, o Schar der Herrscher dieser Welt, denn dadurch wird der Sturm des Haders unter euch gestillt, und eure Völker finden Ruhe. Sollte einer von euch gegen einen anderen die Waffen ergreifen, so erhebt euch alle gegen ihn, denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.« »Die Zeit muß kommen«, schreibt Er in Voraussicht der tastenden Bemühungen, die jetzt angestellt werden, »da die gebieterische Notwendigkeit für die Abhaltung einer ausgedehnten, allumfassenden Versammlung der Menschen weltweit erkannt wird. Die Herrscher und Könige der Erde müssen ihr unbedingt beiwohnen, an ihren Beratungen teilnehmen und solche Mittel und Wege erörtern, die den Grund zum Größten Weltfrieden unter den Menschen legen ... Sollte ein König die Waffen gegen einen anderen ergreifen, so müssen sich alle vereint erheben und ihn daran hindern.«

#279

»Die Herrscher der Welt«, schreibt 'Abdu'l-Bahá in Ausarbeitung dieses Themas, »müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen eindeutig, unverletzlich und bestimmt sind. Sie müssen ihn der ganzen Welt bekanntgeben und die Bestätigung des gesamten Menschengeschlechts für ihn erlangen ... Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und den Bestand dieses größten aller Bündnisse zu sichern ... Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so festgelegt werden, daß bei einer späteren Verletzung einer Bestimmung durch eine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die Menschheit als Ganzes sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu stürzen.«

#280

So bedeutend und beispiellos das bisher Erreichte auch in der Menschheitsgeschichte dasteht, bleibt es doch ohne jeden Zweifel unermeßlich weit hinter den lebensnotwendigen Anforderungen des Systems, das diese Worte voraussehen, zurück. Dem Völkerbund fehlt noch, wie seine Gegner bemerken, die Weltweite, das Grunderfordernis dauerhaften Erfolges in der wirksamen Erledigung internationaler Streitfragen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, sein Stammvater, haben ihn verschmäht und halten sich abseits, während Deutschland und Japan, die zu seinen mächtigsten Stützen zählten, seine Sache im Stich ließen und ihre Mitgliedschaft niederlegten. Die gefaßten Beschlüsse und die bislang durchgeführten Maßnahmen, so werden andere behaupten, sollten nicht für mehr als eine großartige Geste gehalten werden, kaum jedoch für einen schlüssigen Beweis internationaler Solidarität. Wieder andere mögen behaupten, daß trotz der verkündeten Entscheidung, trotz der gegebenen Zusagen kollektive Maßnahmen letzten Endes den eigentlichen Zweck verfehlen, daß der Völkerbund selbst zugrundegehen und von der Flut von Heimsuchungen, die über das ganze Menschengeschlecht kommen müsse, weggespült werde. Sei es, wie es will, die Bedeutung der bereits unternommenen Schritte ist nicht zu leugnen. Wie immer die gegenwärtige Rechtslage des Völkerbunds auch sei, was immer seine historische Entscheidung nach sich ziehe, welche Prüfungen und Rückschläge er in nächster Zukunft auch gewärtigen und ertragen muß, die Tatsache bleibt anzuerkennen, daß eine derart wichtige Entscheidung einen der bedeutendsten Meilensteine auf dem langen, mühseligen Weg darstellt, der den Bund zu seinem Endziel führen muß: der Stufe, auf der die Einheit der gesamten Körperschaft der Nationen zum Leitgrundsatz des internationalen Lebens gemacht sein wird.

#281

Dieser historische Schritt ist jedoch nur ein matter Schimmer in dem Dunkel, das eine aufgewühlte Menschheit umhüllt. Wohl kann er sich gar nur als ein kurzes Aufleuchten, ein flüchtiger Schein inmitten immer tieferer Wirrnis erweisen. Unerbittlich muß der Prozeß der Auflösung weitergehen, muß seinen ätzenden Einfluß immer tiefer ins Mark eines hinfälligen Zeitalters hineintreiben, viel Leid wird nötig sein, ehe die streitenden Nationen, Bekenntnisse, Klassen und Rassen der Menschheit im Schmelztiegel weltweiter Heimsuchung verschmolzen und im Feuer eines grimmigen Gottesgerichts zu einem organischen Gemeinwesen, einem großen, geeinten, harmonisch arbeitenden System geschmiedet sein werden. Unvorstellbar schreckliche Not, ungeahnte Krisen und Aufstände, Krieg, Hunger und Pestilenz mögen sich wohl vereinen, um in die Seele eines achtlosen Geschlechts jene Wahrheiten und Grundsätze einzugraben, die anzuerkennen und zu befolgen es verschmäht hat. Eine Lähmung, schmerzlicher als jede, die sie bis jetzt erlitten hat, muß das Gewebe einer zerbrochenen Gesellschaft durchschaudern und heimsuchen, ehe sie neu erbaut und wiedergeboren werden kann.

»Die von den gelehrten Größen der Kunst und der Wissenschaft so oft gepriesene Zivilisation«, schreibt Bahá'u'lláh, »wird großes Unglück über die Menschen bringen, wenn man ihr gestattet, die Grenzen der Mäßigung zu überschreiten ... Ins Übermaß gesteigert, wird sich die Zivilisation als eine ebenso ergiebige Quelle des Übels erweisen, wie sie, in den Schranken der Mäßigung gehalten, eine Quelle des Guten war ... Es naht der Tag, da ihre Flamme die Städte verschlingt, da die Zunge der Größe verkündet: 'Das Reich ist Gottes, des Allmächtigen, des Allgepriesenen!'« »Seit dem Augenblick, da die Súriy-i-Ra'ís¹ offenbart wurde«, so erklärt Er weiter, »bis auf den heutigen Tag ist weder die Welt zur Ruhe gekommen noch sind die Herzen ihrer Bewohner in Frieden gewesen ... Ihre Krankheit nähert sich dem Zustand äußerster Hoffnungslosigkeit, da der wahre Arzt gehindert wird, das Heilmittel zu reichen, während man ungeübte Quacksalber mit Wohlgefallen sieht und ihnen volle Handlungsfreiheit gewährt. Der Staub des Aufruhrs umwölkt der Menschen Herzen und blendet ihre Augen. Bald werden sie die Folgen dessen sehen, was ihre Hände am Tage Gottes bewirkt haben.« »Dies ist der Tag«, schreibt Er weiter, »da die Erde ihre Botschaft preisgeben soll. Die Übeltäter sind ihr eine Last ... Der Rufer hat gerufen, und die Menschen wurden hinweg gefegt, so groß war Seines Zornes Rasen. Das Volk zur Linken seufzt und klagt. Das Volk zur Rechten aber wohnt in herrlichen Gemächern. Sie trinken den Wein, der wahrhaft Leben ist, aus den Händen des Allbarmherzigen, und sie sind, wahrlich, die Glückseligen.«

¹ das Sendschreiben an den türkischen Großwesir 'Alí Páshá, August 1868

+7:13 #282
Die Gemeinde des Größten Namens

Wer anders können die Glückseligen sein, wenn nicht die Gemeinde des Größten Namens, deren weltumfassende, ständig mehr gefestigte Wirksamkeit den eigentlichen Integrationsprozeß darstellt in einer Welt, deren weltliche wie geistliche Institutionen sich meistenteils auflösen? Sie sind wahrlich »das Volk zur Rechten«, dessen »herrliche Gemächer« auf den Grundmauern der Weltordnung Bahá'u'lláhs errichtet sind, der Arche ewigen Heils an diesem schrecklichsten aller Tage. Sie allein unter allen Geschlechtern auf Erden können inmitten der Wirrnis einer stürmischen Zeit erkennen, wie die Hand des göttlichen Erlösers den Lauf der Dinge vorzeichnet und die Geschicke lenkt. Sie allein wissen um das stille Wachstum jener geordneten Weltverfassung, deren Stoff sie selbst weben.

#283

Im Bewußtsein ihrer hohen Berufung, im vertrauen auf die gesellschaftsbildende Macht ihres Glaubens, drängen sie unerschrocken vorwärts, unverzagt bemüht, die notwendigen Werkzeuge für die Aufzucht und Entwicklung der keimhaften Weltordnung Bahá'u'lláhs zu schmieden und zu vervollkommnen. Das ist der langsame, unaufdringliche Aufbauvorgang, dem das gesamte Leben der weltweiten Bahá'í-Gemeinschaft geweiht ist. Er verkörpert die einzige Hoffnung einer todkranken Gesellschaft; denn dieser Vorgang wird vorangetrieben durch den schöpferischen Einfluß des unveränderlichen göttlichen Willens, und er entfaltet sich im Rahmenwerk der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung Seines Glaubens.

In einer Welt, deren Gefüge politischer und gesellschaftlicher Institutionen schadhaft, deren Gewissen irregeführt ist, deren Religionssysteme blutleer geworden sind und ihre Tugendkraft verloren haben, hat nun dieses heilende Mittel, diese den Teig durchsäuernde Macht, diese zementierende Kraft, allbelebend und alldurchdringend, Gestalt angenommen. Sie verdichtet sich in Institutionen, mobilisiert ihre Kräfte und bereitet sich für die geistige Eroberung und völlige Erlösung der Menschheit. Mag die Gemeinschaft, die solche Ideale verkörpert, auch klein sein, mag der unmittelbare, greifbare Nutzen, den sie stiftet, auch noch unbedeutend sein, so sind doch die Möglichkeiten, mit denen sie ausgestattet ist und durch die sie den einzelnen Menschen zur Wiedergeburt, die zerbrochene Welt zum Wiederaufbau zu führen bestimmt ist, völlig unabsehbar.

#284

Fast ein Jahrhundert lang konnte diese Gemeinschaft inmitten des Lärms und des Aufruhrs einer außer sich geratenen Zeit, trotz der ununterbrochenen Verfolgungen, denen ihre Führer, ihre Institutionen und ihre Anhänger ausgesetzt waren, ihre Identität wahren, ihre innere Kraft und Stärke mehren, ihre organische Einheit behaupten, ihre Gesetze und Grundsätze rein erhalten, ihre Verteidigungsanlagen bauen, ihre Institutionen erweitern und festigen. Zahlreich und mächtig waren die Kräfte, die von innen wie von außen, in fernen Landen und im nahen Umkreis, ihr Licht zu löschen und ihren heiligen Namen zu tilgen suchten. Manche haben sich von ihren Grundsätzen abgekehrt und ihre Sache schmählich verraten. Andere haben gegen sie die zornigsten Bannflüche geschleudert, deren erbitterte Führer kirchlicher Institutionen fähig sind. Wieder andere haben Trübsale und Demütigungen auf sie gehäuft, wie sie nur eine unumschränkte Obrigkeit in der Fülle ihrer Macht verhängen kann.

Das Äußerste, was ihre offenen und geheimen Feinde zu erreichen hoffen konnten, war eine Verzögerung ihres Wachstums und eine vorübergehende Verdunkelung ihrer Ziele. Was sie aber wirklich erreichten, war, daß ihr Leben geläutert, gereinigt und zu noch größerer Tiefe angeregt wurde, daß ihre Seele förmlich galvanisiert wurde, ihre Institutionen ausgeputzt, ihre Einheit verfestigt. Ein Schisma, eine bleibende Kluft in der großen Körperschaft ihrer Anhänger, konnten die Feinde nie schaffen.

Die Verräter an der Sache Gottes, die Lauen und verzagten unter ihren Anhängern, welkten dahin und fielen wie dürre Blätter ab, ohne die Macht, ihren Strahlenglanz zu umwölken oder ihren Bau zu gefährden, ihre unerbittlichsten Feinde, die Angreifer von außen, wurden aus ihren Machtstellungen gestürzt und auf die erstaunlichste Weise von ihrem Schicksal ereilt. Persien war das erste Land, das die Sache Gottes unterdrückte und bekämpfte, und Persiens Monarchen waren elend zugrunde gegangen, ihr Herrscherhaus war zusammengebrochen, ihr Name wurde verflucht, die Geistlichkeit, die mit ihnen verbündet war und ihren Staat im Niedergang gestützt hatte, war gänzlich in Verruf geraten. Die Türkei, die den Begründer dieser Sache dreimal verbannt und ihm Seine grausame, lebenslange Kerkerhaft auferlegt hatte, war durch eines der schwersten Gottesgerichte, eine der folgenreichsten Revolutionen ihrer Geschichte gegangen und von einem der mächtigsten Großreiche zu einer bescheidenen asiatischen Republik zusammengeschrumpft. Ihr Sultanat war ausgelöscht, ihr Herrscherhaus gestürzt, ihr Kalifat, die mächtigste Institution des Islám, abgeschafft.

Unterdessen schritt der Glaube, welcher Gegenstand so ungeheurer Verrätereien, Ziel so schmerzlicher Angriffe gewesen war, von Erfolg zu Erfolg, unerschrocken und ungespalten durch die Wunden, die er einstecken mußte. Mitten in den Heimsuchungen begeisterte er seine getreuen Anhänger mit einer Entschlossenheit, die kein noch so furchtbares Hindernis untergraben konnte. In ihren Herzen hatte er eine Zuversicht entzündet, wie sie kein noch so finsteres Unglück mehr zu löschen in der Lage war. Ihren Herzen hatte er eine Hoffnung eingegeben, die keine noch so entschlossene Macht mehr erschüttern konnte.

+7:14 #285
Eine Weltreligion

Der Glaube Bahá'u'lláhs hat aufgehört, sich als eine Bewegung zu verstehen, als eine Bruderschaft oder dergleichen - Bezeichnungen, die seinem stetig sich entfaltenden System grobes Unrecht getan haben. Er rückt ab von Benennungen wie Bábí-Sekte, asiatischer Kult und Ableger des shí'itischen Islám, womit ihn die Unwissenden und Böswilligen zu behängen pflegten. Er lehnt es ab, als bloße Lebensphilosophie, als eklektisches System sittlicher Lebensführung, ja selbst als nur eine neue Religion etikettiert zu werden. Vielmehr beweist der Glaube Bahá'u'lláhs nunmehr mit sichtbarem Erfolg seinen Anspruch und sein Anrecht auf Anerkennung als eine Weltreligion, dazu bestimmt, in der Fülle der Zeit die Stellung eines weltumfassenden Gemeinwesens einzunehmen, das gleichzeitig Werkzeug und Hüter des von seinem Begründer angekündigten Größten Friedens ist. Weit davon entfernt, die Vielzahl der bestehenden Religionssysteme vermehren zu wollen, deren gegensätzliche Treuepflichten viele Menschenalter hindurch den Frieden der Menschheit gestört haben, vermittelt dieser Glaube jedem seiner Anhänger eine neue Liebe für die verschiedenen Religionen, die in seinem Bereich vertreten sind, und für die Einheit, die ihnen allen zugrundeliegt.

#286

»Er ist wie eine weite Umarmung«, so das Zeugnis einer Königin¹ für den Anspruch und die Stellung dieses Glaubens, »eine Umarmung, die alle jene zusammenführt, welche lange nach Worten der Hoffnung gesucht haben. Er anerkennt alle großen Propheten, die ihm vorangegangen sind, reißt keine anderen Glaubensbekenntnisse nieder und läßt alle Türen offen.« »Die Bahá'í-Lehre«, schreibt sie weiter, »bringt der Seele Frieden und dem Herzen Hoffnung. Wer nach Gewißheit sucht, dem sind die Worte des Vaters wie ein Springquell in der Wüste nach langer Wanderschaft.« »Ihre Schriften«, bezeugt sie in einer anderen Erklärung mit Bezug auf Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá, »sind ein großer Ruf zum Frieden, der über alle Grenzpfähle hinausreicht und alle Meinungsverschiedenheiten wegen Riten und Dogmen übersteigt ... Es ist eine wundersame Botschaft, die Bahá'u'lláh und Sein Sohn 'Abdu'l-Bahá uns gegeben haben. Beide haben diese Botschaft nicht aggressiv aufgemacht, weil sie wußten, daß der Keim ewiger Wahrheit, der in ihrem Innersten liegt, WurzeIn schlagen und sich ausdehnen muß.« »Wenn je der Name Bahá'u'lláhs oder 'Abdu'l-Bahás«, so ihre abschließende Mahnung, »Ihnen zur Kenntnis kommt, legen Sie ihre Schriften nicht beiseite! Durchforschen Sie ihre Bücher, lassen Sie ihre herrlichen, friedebringenden, liebeschaffenden Worte und Lehren in Ihr Herz dringen, wie sie in das meinige gedrungen sind.«

¹ Königin Maria von Rumänien, Enkelin der Queen Victoria und des Zaren Alexander II., an die Bahá'u'lláh Sendschreiben gerichtet hatte, nahm 1926 den Bahá'í-Glauben an und bekannte sich öffentlich zu ihm.

#287

Kraft seiner schöpferischen, steuernden, veredelnden Energien hat der Glaube Bahá'u'lláhs die vielerlei Rassen, Nationalitäten, Glaubensbekenntnisse und Gesellschaftsschichten, die seinen Schatten gesucht und seiner Sache unverbrüchliche Lehenstreue gelobt haben, einander angeglichen. Er hat die Herzen seiner Anhänger gewandelt, ihre Vorurteile hinweggeschmolzen, ihre Leidenschaften gestillt, ihren Lebensstil gehoben, ihre Beweggründe veredelt, ihre Bemühungen aufeinander abgestimmt, ihre Erwartungen umgestaltet. Ihre Vaterlandsliebe haben die Anhänger Bahá'u'lláhs bewahrt. Ihre nachgeordneten Treuepflichten haben sie abgesichert, aber darüber hinaus hat sie ihr Glaube zu Liebenden der Menschheit und zu festen Stützen für deren besten, wahrsten Interessen gemacht. Ihren Glauben an den göttlichen Ursprung ihrer jeweiligen Religionen haben sie sich unversehrt erhalten, aber darüber hinaus hat sie ihre neue Überzeugung befähigt, sich von dem Zweck, der diesen Religionen zugrundeliegt, ein Bild zu machen, deren besonderen Verdienste, Aufeinanderfolge, wechselseitige Abhängigkeit, Ganzheit und Einheit wahrzunehmen und das Band anzuerkennen, das sie mit ihrem neuen Glauben lebendig verknüpft. Die allumfassende, überragende Liebe der Anhänger des Bahá'í-Glaubens für ihre Mitmenschen, gleich welcher Rasse, welchen Bekenntnisses, welcher Klasse oder Nation, ist weder geheimnisvoll noch könnte man sagen, sie sei künstlich aufgeputscht. Sie ist spontan und echt. Wessen Herz vom kraftspendenden Einfluß der schöpferischen Liebe Gottes erwärmt ist, der liebt Gottes Geschöpfe um Gottes willen und erkennt in jedem menschlichen Antlitz ein Zeichen Seiner widerstrahlenden Herrlichkeit.

#288

Von solchen Männern und Frauen kann in Wahrheit gesagt werden, für sie sei »jedes fremde Land ein Vaterland, und jedes Vaterland ein fremdes Land«. Denn ihr Bürgerrecht - das muß festgehalten werden - ist das Königreich Bahá'u'lláhs. Durchaus willens, an den zeitlichen Segnungen und flüchtigen Freuden dieses irdischen Lebens bis zum letzten teilzuhaben, durchaus darauf bedacht, an jeder Tätigkeit für Reichtum, Glück und Frieden dieses Erdenlebens mitzuwirken, können sie doch keinen Augenblick lang vergessen, daß es sich hier nur um einen vorübergehenden, nur um einen kurzen Abschnitt ihres Daseins handelt, daß jene, die diesen Abschnitt durchleben, nur Pilger und Wanderer sind, deren Ziel die Himmlische Stadt und deren Heimat das Land unversieglicher Freude und Herrlichkeit ist.

Ihren jeweiligen Regierungen treu ergeben, an allen Fragen, die deren Sicherheit und Wohlfahrt berühren, ernsthaften Anteil nehmend, auf ihren eigenen Beitrag zur Förderung der besten Interessen ihrer Regierungen bedacht, glauben die Anhänger Bahá'u'lláhs dennoch fest, daß Gott die Sache, für die sie einstehen, hoch über die Stürme, Spaltungen und Gegensätze der politischen Kampfbahn erhoben hat. Sie erfassen ihren Glauben als dem Wesen nach unpolitisch, supranational, streng unparteiisch und völlig losgelöst von nationalistischen Ambitionen, Bestrebungen und Plänen. Solcher Glaube kennt keine Teilung in Klassen oder Parteien. Ohne Zögern, ohne Zweideutigkeit ordnet er jedes Sonderinteresse persönlicher, regionaler oder nationaler Art den alles überragenden Interessen der Menschheit unter, fest davon überzeugt, daß in einer Welt gegenseitig abhängiger Völker und Nationen das Wohl des Teils am besten durch das Wohl des Ganzen zu erreichen ist und daß der Teil keinen bleibenden Nutzen gewinnen kann, wenn das allgemeine Wohl des Ganzen bestritten oder vernachlässigt wird.

#289

Kein Wunder, daß die Feder Bahá'u'lláhs in der Vorausschau auf den gegenwärtigen Zustand der Menschheit offenbarte:»Ruhm gebührt nicht dem, der sein eigenes Land liebt, sondern dem, der die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.« Und wiederum: »Der wahrlich ist Mensch, der sich heute dem Dienste an der ganzen Menschheit weiht.« »Durch die Macht, die mit diesen erhabenen Worten entfesselt worden ist, hat Er den Vögeln der Menschenherzen frischen Schwung und neue Richtung gegeben und jede Spur von Vorbehalt und Grenze aus Gottes Heiligem Buch getilgt.«

Mehr noch: Ihr Glaube ist nach der festen Überzeugung der Bahá'í überkonfessionell, nicht sektiererisch, und völlig getrennt von jedem Kirchensystem, einerlei, welcher Form, welchen Ursprungs oder welcher Tätigkeit es auch sei. Keine kirchliche Organisation mit den ihr eigenen Glaubensbekenntnissen, Überlieferungen, Begrenzungen und beschränkten Erwartungen läßt sich - ebensowenig wie alle bestehenden politischen Gruppierungen, Parteien, Systeme und Programme - als nach allen Gesichtspunkten vereinbar mit den Hauptlehren des Bahá'í-Glaubens bezeichnen. Manche dieser Grundsätze und Ideale, wie sie politische und kirchliche Institutionen beseelen, kann jeder gewissenhafte Anhänger des Glaubens Bahá'u'lláhs ohne Zweifel bereitwillig unterschreiben, aber mit keiner dieser Institutionen kann er sich identifizieren, noch kann er deren Glaubensbekenntnisse, Grundsätze und Programme vorbehaltlos unterzeichnen.

#290

Wie könnte ein Glaube - das sollte weiterhin bedacht werden -, dessen gottgewollte Institutionen im Rechtsbereich von nicht weniger als vierzig verschiedenen Ländern begründet sind, Ländern, deren Regierungspolitik und Interessen ständig aneinanderstoßen und Tag für Tag wirrer und verwickelter werden, - wie könnte ein solcher Glaube erfolgreich die Unversehrtheit seiner Lehren und die Einheit seiner Anhänger wahren, wenn er diesen verstattete, sich einzeln oder organisiert durch ihre Räte auf politische Betätigungen einzulassen? Wie könnte er die kraftvolle, ununterbrochene, friedliche Entwicklung seiner sich ausbreitenden Institutionen sichern? Wie könnte ein Glaube, den seine Verzweigungen mit gegenseitig unvereinbaren Religionssystemen, Sekten und Bekenntnissen in Berührung gebracht haben, die unbedingte Ergebenheit derer beanspruchen, die er in sein gottbestimmtes System einzugliedern sucht, wenn er seinen Anhängern erlaubte, in überholte Bräuche und Lehren einzuwilligen? Wie könnte er die fortgesetzten Reibereien, Mißverständnisse und Streitigkeiten vermeiden, die sich aus einer formellen Angliederung - im Unterschied zu einem geselligen Umgang - unvermeidlich ergäben?

#291

Diese leitenden und steuernden Grundsätze des Bahá'í-Glaubens zu verfechten und umsichtig anzuwenden, sehen sich die Vertreter der Sache Bahá'u'lláhs in dem Maße gehalten, wie sich ihre Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung erweitert und festigt. Die Erfordernisse eines langsam kristallisierenden Glaubens auferlegen ihnen eine Verpflichtung, die sie nicht umgehen, eine Verantwortung, der sie sich nicht entziehen können.

Auch vergessen sie nicht die gebieterische Notwendigkeit, die Gesetze, welche Bahá'u'lláh gegeben hat - im Unterschied zu Seinen Leit- und Grundsätzen - zu verfechten und anzuwenden, bilden doch Gesetze und Grundsätze zusammen Kette und Schuß jener Institutionen, auf denen der Bau Seiner Weltordnung letzten Endes ruhen muß. Um ihre Nützlichkeit und Wirksamkeit darzulegen, um sie auszuführen und anzuwenden, ihre Unversehrtheit zu wahren, ihre Folgerungen zu begreifen und ihre öffentliche Verbreitung zu ermöglichen, entfalten die Bahá'í-Gemeinden im Osten und neuerdings im Westen äußerste Anstrengungen und sind nötigenfalls zu allen verlangten Opfern bereit. Der Tag mag nicht mehr fern sein, da in gewissen Ländern des Ostens, in denen die Religionsgemeinschaften standesamtliche Rechte üben, die Bahá'í-Räte berufen sein werden, die Pflichten und Verantwortlichkeiten amtlich verfaßter Bahá'í-Gerichtshöfe zu übernehmen. Sie werden dann bevollmächtigt sein, in Sachen wie Eheschließung, Scheidung und Erbschaft innerhalb ihres jeweiligen Rechtsbereichs und mit Genehmigung der Zivilbehörden solche Gesetze und Verordnungen auszuführen und anzuwenden, die ausdrücklich in ihrem Heiligsten Buche vorgesehen sind.

#292

Über solche Strömungen und Tätigkeiten hinaus, wie sie die Entwicklung jetzt zeigt, hat der Glaube Bahá'u'lláhs auf anderen Gebieten, wo immer der Glanz seines Lichtes in die Tiefe gedrungen ist, die Kraft seines inneren Zusammenhalts, seiner Integrationsfähigkeit, seines unbesiegbaren Geistes unter Beweis gestellt. Die Errichtung und Einweihung des Hauses der Andacht im Herzen des nordamerikanischen Erdteils, der Aufbau und die Vermehrung der Verwaltungssitze im Lande seiner Geburt und in den Nachbarstaaten, die Gestaltung der gesetzlichen Werkzeuge für die Sicherung und Leitung des Gemeinschaftslebens in seinen Institutionen, die Ansammlung ausreichender materieller wie kultureller Hilfsmittel auf jedem Kontinent des Erdballs, die Stiftungen, die der Glaube in nächster Umgebung der Schreine an seinem Weltzentrum begründet hat, die Bemühungen um die Sammlung, Beglaubigung und systematische Ordnung der Schriften seiner Begründer, die Maßnahmen für den Erwerb jener historischen Stätten, die mit dem Leben seines Vorläufers und seines Begründers, seiner Helden und Märtyrer verknüpft sind, die Grundlagen, die für die allmähliche Bildung und den Bau seiner Erziehungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen gelegt worden sind, die tatkräftigen Bemühungen um die Sicherung der besonderen Wesensart, die Anregung der Initiative und die Zuordnung der weltweiten Tätigkeiten seiner Jugend, die außergewöhnliche Lebenskraft, mit der seine tapferen Verteidiger, seine gewählten Vertreter, seine Reiselehrer und seine bahnbrechenden Verwalter seine Sache vertreten, seine Grenzpfähle weitertragen, sein Schrifttum bereichern und die Grundlagen seiner geistigen Eroberungen und Triumphe stärken, die Anerkennung, welche die Zivilbehörden in gewissen Fällen der Körperschaft ihrer örtlichen und nationalen Vertreter zu zollen veranlaßt wurden, wodurch jene in der Lage waren, ihre Räte gesetzlich einzutragen, ihre Hilfsinstitutionen aufzubauen und ihre Stiftungen rechtlich abzusichern, die Vergünstigungen, welche jene selben Behörden den Schreinen dieses Glaubens, seinen geweihten Bauten und seinen Erziehungseinrichtungen gewährten, die entschlossene Begeisterung, mit der gewisse schwergeprüfte und gequälte Gemeinden ihre Tätigkeiten wieder aufnehmen, die spontane Anerkennung, die eine Königin, Prinzen, Staatsmänner und Gelehrte der Erhabenheit seiner Sache und der Stufe seines Begründers zollten - diese und viele andere Erscheinungen beweisen über jeden Zweifel hinaus die Kraft und Fähigkeit, mit der der Glaube Bahá'u'lláhs jenen zerstörerischen Einflüssen entgegenwirkt, denen Religionssysteme, sittliche Maßstäbe, politische und gesellschaftliche Institutionen ansonsten ausgesetzt sind.

#293

Von Island bis Tasmanien, von Vancouver bis zum chinesischen Meer breitet sich der Glanz und dehnen sich die Verzweigungen dieses weltumspannenden Systems, dieser vielfarbigen, festverknüpften Bruderschaft. Jedem Mann und jeder Frau, die es für seine Sache gewonnen hat, vermittelt dieses System eine Hoffnung und eine Tatkraft, wie sie ein eigensinniges Geschlecht seit langem verloren hat und wieder zu erlangen machtlos ist. Jene, die über die unmittelbaren Geschicke dieser gepeinigten Welt die Aufsicht führen, für ihren chaotischen Zustand, ihre Ängste, Zweifel und Trübsale verantwortlich sind, tun in ihrer Verwirrung gut daran, ihr Augenmerk auf die Beweise dieser rettenden Gnade des Allmächtigen zu lenken und in ihrem Herzen darüber nachzudenken - einer Gnade, die ihre eigene Last erleichtern, ihre Verlegenheit beseitigen, ihren Pfad erleuchten kann.

+7:15 #294
Göttliche Vergeltung

Das ganze Menschengeschlecht stöhnt und schmachtet danach, zur Einheit geführt zu werden und sein lange Zeitalter währendes Martyrium zu beenden. Und dennoch weigert es sich hartnäckig, das Licht aufzunehmen und die souveräne Amtsgewalt jener einzigen Macht anzuerkennen, die es aus seinen Verwicklungen befreien und das leidvolle Unheil abwenden kann, das es in den Abgrund zu reißen droht.

Schicksalsträchtig ist in der Tat die Stimme Bahá'u'lláhs, die aus diesen prophetischen Worten klingt: »O Völker der Welt! Wisset wahrlich, daß unerwartetes Unheil euch verfolgt und schmerzliche Vergeltung euer harrt. Wähnet nicht, was ihr begangen habt, sei vor Meinem Angesicht getilgt.« Und wiederum: »Wir haben euch eine Frist gesetzt, o Völker. Wenn ihr versäumt, euch bis zur festgesetzten Stunde Gott zuzuwenden, wird Er wahrlich gewaltig Hand an euch legen und schwere Leiden von allen Seiten über euch kommen lassen. Wie streng ist fürwahr die Züchtigung, mit der euer Herr euch dann züchtigen wird!«

Muß die Menschheit wirklich, gepeinigt wie sie schon ist, noch schlimmer von Drangsalen befallen werden, ehe deren läuternder Einfluß sie für den Eintritt in das himmlische Königreich, das auf Erden errichtet werden soll, vorbereiten kann? Muß der Beginn eines so großen, so einzigartigen, so erleuchteten Zeitalters angekündigt werden durch eine Katastrophe in den menschlichen Angelegenheiten von solchen Ausmaßen, daß sie den entsetzlichen Zusammenbruch der römischen Kultur in den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters in Erinnerung ruft, ja übertrifft? Muß eine Folge tiefgreifender Erschütterungen das Menschengeschlecht rütteln und schütteln, ehe Bahá'u'lláh im Herzen und Gewissen der Massen auf den Thron gesetzt werden kann, ehe Seine Überlegenheit allgemein und unumstritten anerkannt wird, ehe das edle Bauwerk Seiner Weltordnung aufgeschlagen und errichtet wird?

Die langen Zeiten der Kindheit und der Minderjährigkeit, welche die Menschheit zu durchschreiten hatte, sind in den Hintergrund getreten. Die Menschheit erlebt jetzt die Erregungen, die unabänderlich mit der stürmischsten Stufe ihrer Entwicklung, dem Jünglingsalter, verbunden sind. In dieser Zeit erreichen jugendliche Unbändigkeit und Heftigkeit den Höhepunkt; sie müssen Schritt für Schritt von der Ruhe, der Weisheit und der Vollendung abgelöst werden, welche die Stufe des Mannesalters kennzeichnen. Dann wird das Menschengeschlecht jene Gestalt der Reife erlangen, die es befähigen wird, alle die Kräfte und Fähigkeiten zu erwerben, von denen seine Entwicklung letztlich abhängt.

+7:16 #295
Welteinheit ist das Ziel

Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschliche Gesellschaft heute nähert. Die Einheit der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation ist nacheinander in Angriff genommen und völlig erreicht worden. Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit zustrebt. Der Aufbau von Nationalstaaten ist zu einem Ende gekommen. Die Anarchie, die der nationalstaatlichen Souveränität anhaftet, nähert sich heute einem Höhepunkt. Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muß diesen Fetisch aufgeben, die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für allemal den Apparat aufrichten, der diesen Leitgrundsatz ihres Daseins am besten zu verkörpern vermag.

#296

»Neues Leben«, verkündet Bahá'u'lláh, »regt sich in diesem Zeitalter bei allen Völkern der Erde, und doch hat niemand seine Ursache entdeckt oder seinen Antrieb wahrgenommen.« »O ihr Menschenkinder«, redet Er Seine Zeitgenossen an, »die Grundabsicht, die den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist, das Wohl des Menschengeschlechts zu sichern und seine Einheit zu fördern ... Dies ist der gerade Pfad, die feste, unverrückbare Grundlage. Was immer auf diese Grundlage gebaut wird, dessen Stärke können Wandel und Wechsel der Welt nie beeinträchtigen, noch wird der Ablauf zahlloser Jahrhunderte seinen Bau untergraben.« »Die Wohlfahrt der Menschheit«, erklärt Er, »ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn und bevor nicht ihre Einheit fest begründet ist.« »So mächtig ist das Licht der Einheit«, so lautet Sein weiteres Zeugnis, »daß es die ganze Erde zu erleuchten vermag. Der eine wahre Gott, der alle Dinge kennt, bezeugt die Wahrheit dieser Worte ... Dieses Ziel überragt jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst allen Strebens.« »Er, der euer Herr ist, der Allerbarmer«, so hat Er ferner geschrieben, »hegt in Seinem Herzen den Wunsch, die ganze Menschheit als eine Seele und einen Körper zu sehen. Eilt, euren Anteil an Gottes Huld und Barmherzigkeit zu erlangen an diesem Tage, der alle anderen erschaffenen Tage in den Schatten stellt.«

#297

Die Einheit des Menschengeschlechts, wie sie Bahá'u'lláh vorausschaut, umschließt die Begründung eines Weltgemeinwesens, in welchem alle Nationen, Rassen, Glaubensbekenntnisse und Klassen eng und dauerhaft vereint, die Autonomie seiner nationalstaatlichen Glieder sowie die persönliche Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Menschen, aus denen es gebildet ist, ausdrücklich und völlig gesichert sind. Dieses Gemeinwesen muß, soweit wir es uns vorstellen können, aus einer Weltlegislative bestehen, deren Mitglieder als Treuhänder der ganzen Menschheit die gesamten Hilfsquellen aller Mitgliedstaaten überwachen. Sie muß die erforderlichen Gesetze geben, um das Leben aller Rassen und Völker zu steuern, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre wechselseitigen Beziehungen anzupassen. Eine Weltexekutive, gestützt auf eine internationale Streitmacht, wird die Beschlüsse jener Weltlegislative ausführen, deren Gesetze anwenden und die organische Einheit des ganzen Gemeinwesens sichern. Ein Weltgerichtshof wird seine bindende, endgültige Entscheidung in sämtlichen Streitfragen, die zwischen den vielen Gliedern dieses allumfassenden Systems auftreten können, fällen und zustellen. Ein Netzwerk weltweiter Kommunikation wird ersonnen werden; es wird den ganzen Erdball umspannen und, von allen nationalen Hindernissen und Beschränkungen frei, mit wunderbarer Schnelligkeit und vollkommener Pünktlichkeit ablaufen. Eine Welthauptstadt wird als Nervenzentrum einer Weltzivilisation und als Brennpunkt wirken, in dem die einigenden Lebenskräfte zusammenlaufen und von dem ihre kraftbringenden Einflüsse ausstrahlen werden. Eine Weltsprache wird entweder geschaffen oder unter den bestehenden Sprachen ausgewählt und in den Schulen aller verbündeten Nationen als ein Hilfsmittel neben der jeweiligen Muttersprache gelehrt werden. Eine Weltschrift, eine Weltliteratur, ein einheitliches, allumfassendes Währungs-, Gewichts- und Maßsystem werden den Verkehr und die Verständigung unter den Nationen und Rassen der Menschheit vereinfachen und erleichtern. In dieser Weltgesellschaft werden Wissenschaft und Religion, die beiden gewaltigsten Kräfte im menschlichen Leben, in Einklang gebracht sein; sie werden zusammenwirken und sich harmonisch entwickeln. Die Presse wird in einem solchen System der Darlegung der verschiedenen Ansichten und Überzeugungen der Menschheit vollen Spielraum gewähren, aber nicht mehr durch althergebrachte Interessen, seien sie persönlicher oder allgemeiner Natur, unheilvoll gelenkt sein; vom Einfluß streitender Regierungen und Völker wird sie befreit sein. Die wirtschaftlichen Hilfsmittel der Welt werden organisiert, ihre Rohstoffquellen erschlossen und restlos nutzbar gemacht, ihre Märkte aufeinander abgestimmt und entwickelt, die Verteilung ihrer Erzeugnisse unparteiisch geregelt werden.

#298

Nationale Rivalität, Haß und Intrigen werden aufhören, Feindseligkeiten und Rassenvorurteile werden durch Freundschaft, Verständigung und Zusammenarbeit ersetzt werden. Die Ursachen religiöser Zwistigkeiten werden für immer aus dem Wege geräumt werden; wirtschaftliche Schranken und Hindernisse werden völlig beseitigt, der maßlose Klassenunterschied verwischt werden. Mangel auf der einen Seite und unmäßige Anhäufung von Eigentumsrechten auf der anderen Seite werden verschwinden. Die ungeheuren Kräfte, die für die wirtschaftliche oder politische Kriegsführung verzettelt und vergeudet werden, fließen Zwecken zu, welche die Reichweite menschlicher Erfindungen erweitern, die technische Entwicklung fördern, die Produktivität der Menschheit steigern, Krankheiten ausrotten, wissenschaftliche Forschungen ausdehnen, den körperlichen Gesundheitszustand heben, den menschlichen Verstand schärfen und verfeinern, die ungenutzten, ungeahnten Hilfsquellen dieser Erde ausbeuten, das menschliche Dasein verlängern und jedwedes andere Mittel fördern, welches das verstandliche, sittliche und geistige Leben des ganzen Menschengeschlechts anzuregen vermag.

#299

Ein Weltbundsystem, das die ganze Erde beherrscht und unanfechtbare Amtsgewalt über ihre unvorstellbar großen Hilfsquellen hat, das die Ideale sowohl des Ostens wie auch des Westens verkörpert und in Einklang bringt, vom Fluch und Elend des Krieges befreit und auf die Ausnützung aller verfügbaren Kraftquellen der Erdoberfläche bedacht ist, ein System, in dem die Gewalt zur Dienerin der Gerechtigkeit gemacht ist, dessen Leben von der allumfassenden Anerkennung eines Gottes und vom Gehorsam gegen eine gemeinsame Offenbarung getragen ist - dies ist das Ziel, dem die Menschheit, durch die vereinenden Lebenskräfte angetrieben, zustrebt.

»Eines der großen Ereignisse«, bekräftigt 'Abdu'l-Bahá, »welches sich am Tage der Offenbarung jenes unvergleichlichen Zweiges zuträgt, ist das Aufpflanzen des Banners Gottes unter allen Nationen. Damit ist gemeint, daß alle Nationen und Geschlechter im Schatten dieses göttlichen Banners, welches nichts anderes als der Zweig des Herrn selbst ist, versammelt und zu einer einzigen Nation verschmolzen werden. Religiöser und sektierischer Gegensatz, Rassen- und Völkerfeindschaft, Streitigkeiten zwischen den Nationen werden ausgemerzt werden. Alle Menschen werden einer Religion angehören, werden einen gemeinsamen Glauben haben, werden zu einer einzigen Rasse vermischt und ein einziges Volk werden. Alle werden in einem gemeinsamen Vaterland wohnen, und das ist der Erdball als Ganzes.« »Nunmehr hat in der Welt des Seins«, so erklärt Er weiter, »die Hand göttlicher Macht die Grundlagen dieser allerhöchsten Gnadengabe fest begründet. Was auch im Innersten dieses heiligen Zyklus verborgen ruht, es wird allmählich erscheinen und offenbar gemacht werden; denn jetzt ist erst der Beginn seines Wachstums und der Morgen der Offenbarung seiner Zeichen. Noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts und dieses Zeitalters wird klar und augenscheinlich gemacht sein, wie wundersam jene Frühlingszeit war und wie himmlisch jene Gabe.«

#300

Nicht weniger fesselnd ist die Vision Jesajas, des größten der jüdischen Propheten, der schon vor zweitausendfünfhundert Jahren die Bestimmung vorausschaute, zu der die Menschheit im Zustand ihrer Reife gelangen muß: »Und Er (der Herr) wird richten unter den Nationen und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Sicheln machen. Denn kein Volk wird das Schwert gegen das andere erheben, und sie werden hinfort nicht mehr die Kriegskunst lernen ... Und es wird ein Reis aufgehen aus Isais Stamm und ein Schößling aus seinen Wurzeln hervorbrechen ... Und er wird die Erde schlagen mit dem Stabe seines Mundes und mit dem Odem seiner Lippen den Frevler töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und Glaube der Gurt seiner Hüften. Der Wolf wird beim Lamme wohnen, und der Parder wird lagern beim Böcklein. Das Kalb und der junge Löwe und das Mastvieh sind beisammen ... Und der Säugling wird spielen am Loch der Natter, und ein Entwöhnter wird seine Hand in die Höhle des Basilisken stecken. Nirgends wird man Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll sein der Erkenntnis des Herrn, wie die Wasser das Meer bedecken.«

Der Verfasser der Apokalypse legt, die tausendjährige Herrlichkeit einer erlösten, frohlockenden Menschheit vorstellend, ein ähnliches Zeugnis ab: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen; auch das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, herniedersteigen aus dem Himmel von Gott her, gekleidet wie eine Braut, die geschmückt ist für ihren Mann. Und ich hörte eine laute Stimme vom Himmel her rufen: 'Sehet, das Zelt Gottes unter den Menschen! Er wird wohnen bei ihnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein als ihr Gott. Und Gott wird alle Tränen wegwischen von ihren Augen; der Tod wird nicht mehr sein und nicht Trauer und Klage und Mühsal; denn das Frühere ist vergangen.'«

#301

Wer könnte bezweifeln, daß solche Vollendung - die Volljährigkeit des Menschengeschlechts - ihrerseits den Beginn einer Weltkultur bezeichnen muß, wie sie noch kein sterbliches Auge je gesehen, kein menschlicher Geist je erfaßt hat? Wer ist da, der sich die erhabene Stufe vorstellen könnte, die eine solche Kultur in dem Maße, wie sie sich entfaltet, zu erreichen bestimmt ist? Wer kann die Höhen ermessen, zu denen sich der menschliche Verstand aufschwingen wird, wenn er erst von seinen Fesseln befreit ist? Wer kann die Reiche schauen, die der Menschengeist entdecken wird, nachdem er von dem strömenden Licht Bahá'u'lláhs in der Fülle seiner Herrlichkeit belebt sein wird?

Welchen passenderen Abschluß gäbe es für dieses Thema als diese Worte Bahá'u'lláhs, die Er in der Vorausschau auf das Goldene Zeitalter Seines Glaubens schrieb, das Zeitalter, da das Antlitz der Erde von Pol zu Pol den unbeschreiblichen Strahlenglanz des Paradieses Abhá widerspiegeln wird? »Dies ist der Tag, da nichts als der Glanz des Lichtes zu sehen ist, der vom Antlitz deines Herrn, des Gnädigen, des Mildtätigsten, leuchtet. Wahrlich, Wir haben jede Seele verhauchen lassen kraft Unserer unwiderstehlichen, allunterwerfenden Herrschaft. Wir haben sodann eine neue Schöpfung ins Dasein gerufen, als ein Zeichen unserer Gnade für die Menschen. Ich bin wahrlich der Allgütige, der Altehrwürdige der Tage. Dies ist der Tag, da die unsichtbare Welt ausruft: 'Groß ist deine Glückseligkeit, o Erde, denn du bist zum Schemel deines Gottes gemacht und zum Sitz seines mächtigen Thrones erkoren!' Das Reich der Herrlichkeit ruft laut: 'Könnte doch mein Leben ein Opfer für dich sein, denn Er, der Geliebte des Allerbarmers, hat auf dir seine Herrschaft errichtet durch die Macht seines Namens, der allen Dingen, den vergangenen wie den künftigen, verheißen worden ist.'«

Shoghi

Haifa, Palästina, 11. März 1936


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SHOGHI EFFENDI DIE WELTORDNUNG BAHÁ'U'LLÁHS

(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Baha'u'llahs)

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